Angst vor EskalationSzenarien für einen neuen Koreakrieg
Nordkorea schlägt im Streit mit dem Süden immer schrillere Töne an. Damit wächst die Furcht vor einem neuen Koreakrieg. Ein Funke könnte zum Ausbruch führen.
Der Koreakrieg wurde lange als «vergessener Krieg» bezeichnet. Seit Jungdiktator Kim Jong-Un laufend neue Kriegsdrohungen an die Adresse des südlichen Nachbarn und der USA richtet, rückt der blutige Waffengang in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Am 25. Juni 1950 hatte Kim Il-Sung, der Grossvater des heutigen Machthabers, das Nachbarland überfallen unter dem bis heute von der Propaganda verwendeten Vorwand, einen Angriff aus dem Süden abzuwehren. Nordkorea war damals stärker als der Süden und konnte sich auf Unterstützung von Stalins Sowjetunion und der jungen Volksrepublik China verlassen.
Tatsächlich wäre es Kims Volksarmee beinahe gelungen, die gesamte Halbinsel zu erobern. Fast in letzter Minute griffen die Amerikaner ein, mit einem Mandat des UNO-Sicherheitsrats. Die Sowjetunion boykottierte damals das Gremium, weil sich die Westmächte weigerten, den Sitz Chinas an die Volksrepublik zu übergeben. Unter dem Kommando von General Douglas MacArthur wurden die Nordkoreaner zurückgeschlagen. Dann kamen ihnen die Chinesen zu Hilfe – Machthaber Mao Zedong wollte eine Wiedervereinigung Koreas verhindern. Es kam zu einem langen und verlustreichen Stellungskrieg, der am 27. Juli 1953 mit der Unterzeichnung eines Waffenstillstands-Abkommens im Grenzort Panmunjom endete.
Süden nicht mehr unvorbereitet
Ein Friedensvertrag existiert bis heute nicht, weshalb der von Kim Jong-Un deklarierte Kriegszustand eigentlich nur dem Status quo entspricht. Trotzdem stellen sich Experten die Frage, ob es an diesem letzten Brennpunkt des Kalten Kriegs zum Ernstfall kommen könnte. Die Voraussetzungen haben sich vollständig verändert. Das damals verarmte Südkorea ist heute eine wohlhabende Hightech-Nation, während der kommunistische Norden in Isolation und Rückständigkeit verharrt. Der Süden ist auch nicht mehr so unvorbereitet wie vor 60 Jahren. So sind permanent 28'000 US-Soldaten im Land stationiert.
Die meisten Analysten glauben deshalb trotz der schrillen Töne aus Pjöngjang nicht, dass es zum Äussersten kommt. Trotzdem werden Szenarien entwickelt. Der US-Journalist Andrew Salmon, Autor zweier Bücher über den Koreakrieg, hat für CNN einen möglichen Kriegsablauf skizziert. Vieles wirkt sehr spekulativ, mit vielen Wenns und Abers. Einige interessante Punkte aber hebt Salmon hervor: So ist die Volksarmee mit rund 1,1 Millionen Mann fast doppelt so gross wie die südkoreanischen Streitkräfte. Sie ist aber kaum kriegstauglich: Es fehlt an Ausrüstung und Treibstoff, die Soldaten gelten als unterernährt.
Seoul ist verwundbar
Zumindest zwei konventionelle Truppenteile aber stellen eine echte Bedrohung dar. General James Thurman, Kommandant der US- und UNO-Truppen in Südkorea, warnte letztes Jahr, dass der Norden über 60'000 bestens ausgebildete Elitesoldaten verfügt sowie mehr als 13'000 Artillerie-Geschütze. Die meisten sind entlang der entmilitarisierten Zone eingebunkert und können das nur etwa 50 Kilometer von der Grenze entfernte Seoul erreichen. Im Grossraum der südkoreanischen Hauptstadt leben 24 Millionen Menschen.
Ein Beschuss kombiniert mit einem Angriff der Elitetruppen könnte verheerende Schäden anrichten, zumindest theoretisch. In der Praxis wäre ein solches Szenario selbstmörderisch. Experten geben dem Regime in Pjöngjang keine Chance, einen lange dauernden konventionellen Krieg zu gewinnen. Die USA und Südkorea würden mit ihren hoch entwickelten Kampfjets und Kriegsschiffen zurückschlagen. Bodentruppen wären kaum nötig. Unklar ist jedoch, welche Möglichkeiten Nordkorea im nicht-konventionellen Bereich hat.
China kritisiert den Norden
Mitte März kam es in Südkorea zu massiven Computerausfällen, ausgelöst vermutlich durch eine Cyberattacke aus dem Norden. Pjöngjang verfügt zudem über rund tausend Raketen. Bis zur Entwicklung eines Atomsprengkopfs dürfte es noch Jahre dauern, doch niemand weiss, ob allenfalls biologische und chemische Kampfstoffe existieren. Südkorea will es jedenfalls nicht darauf ankommen lassen und notfalls einen Präventivschlag ausführen, wie Kim Byung-Ki von der Korea-Universität in Seoul erklärte: «Sobald wir entdecken, dass weitreichende Artillerie und Raketen vorbereitet werden, hätten wir keine andere Wahl.»
Offen bleibt auch, wie China im Fall eines neuen Koreakriegs reagieren würde. Choi Ji-Wook vom Institut für Nationale Wiedervereinigung in Seoul glaubt, dass Peking dem Norden erneut helfen würde, «aber nur auf nordkoreanischem Gebiet». Einen Angriff auf Südkorea werde China nicht unterstützen. Für diese These spricht, dass die chinesische Regierung gegenüber dem Verbündeten eine härtere Gangart eingeschlagen hat. Sie hat die verschärften UNO-Sanktionen unterstützt und die angekündigte Wiederinbetriebnahme des Atomreaktors von Yongbyon als «bedauerlich» bezeichnet – eine deutliche Kritik.
Millionen von Toten?
Unter dem Strich bleibt ein neuer Koreakrieg für Kim Jong-Un ein Himmelfahrtskommando. Die USA haben denn auch bislang keine Truppenbewegungen und keine Anzeichen für eine Mobilmachung im Norden entdeckt. Ein Restrisiko aber bleibt, und es wird mit jeder neuen Drohung grösser. Keine Partei wolle einen ausgewachsenen Krieg, glaubt Dan Pinkston, Leiter des Seouler Büros der International Crisis Group. Doch ein Missverständnis oder eine Kurzschlusshandlung könnten dazu führen, «und die Eskalationsleiter wird immer kürzer».
Über die Folgen macht sich Pinkston keine Illusionen. Zwar gelten die meisten Opferzahlen des ersten Koreakriegs heute als übertrieben. Die aktuelle Forschung geht von einer bis zwei Millionen Toten bei allen Konfliktparteien aus. Eine solche Zahl könnte in einem neuen Waffengang ohne weiteres wieder erreicht werden: «Die Kämpfe im Irak, in Afghanistan und Syrien würden im Vergleich dazu verblassen», meint Dan Pinkston.