Syrischer Bürgerkrieg«Unsere Generation wird keinen Frieden sehen»
100'000 Tote, zwei Millionen Flüchtlinge und kein Ende in Sicht. Friedensforscher Wolfgang Dietrich sieht wenig Hoffnung für Syrien. Die Chance für eine Lösung wurde schändlich vertan.

Luftaufnahme des Quartiers Chalidija in Homs nach der Rückeroberung durch Regierungstruppen Ende Juli 2013.
Gibt es Ansätze aus der Friedensforschung für die vertrackte Situation in Syrien?
Wolfgang Dietrich: Ich fürchte, Syrien ist derzeit eher ein Fall für die Kriegsforschung, obwohl es in jedem Krieg auch Aspekte des Friedens gibt.
Heisst das, es kommt nur noch eine militärische Lösung infrage?
Nein, militärisch wird nichts gelöst. Ich meine damit, dass die üblichen Instrumente aus der modernen, diplomatischen Friedensarbeit in Syrien nicht mehr greifen. Es wurde zuviel Zeit versäumt.
Wann und wie wäre eine Lösung aus Ihrer Sicht möglich gewesen?
Zu Beginn der Proteste bestand ein kleines Zeitfenster. Als auf diese mit staatlicher Gewalt reagiert wurde, gab es einen Moment, in dem die Entsendung von UN-Friedenstruppen mit einem Mandat zur robusten Friedensschaffung (Peace Enforcement) angebracht gewesen wäre. Kosten und Risiko wären gewaltig, im Gegensatz zum Vorgehen in Libyen aber gerechtfertigt gewesen. Die UNO ist in ihrer derzeitigen Verfassung zu einem Projekt dieser Dimension aber nicht in der Lage.
Die UNO entsandte 2012 eine Beobachtermission.
Das war zu spät und viel zu wenig, genau genommen eine Schande.
Was müsste in Syrien passieren, damit Friedensinitiativen wieder eine Chance hätten?
Eine Erschöpfung der Kriegsparteien, die noch nicht in Sicht ist. Assad steht mit dem Rücken zur Wand und weiss, was ihm im Fall einer Niederlage blüht. Die gemässigten Rebellen wären am ehesten zu einer Feuerpause bereit, da viele von ihnen ohnehin desillusioniert sind und den Traum eines demokratischen Syriens aufgegeben haben. Doch inzwischen geben extremistische Milizen den Ton an. Die kämpfen unvermindert weiter – gegen die Regierung und gegen einander.
Die andere Möglichkeit wäre, die Konfliktparteien «auszuhungern».
Auch dafür gibt es derzeit keinerlei Anzeichen. Regionale und überregionale Akteure befeuern den Konflikt nach wie vor mit reichlich Geld und Waffen. Selbst wenn es zur Erschöpfung der Parteien kommt, wäre das nur ein Nicht-Krieg, kein Friede.
Entwerfen Sie ein Best-Case-Szenario, ganz hypothetisch.
Das hypothetisch Beste wäre eine Verständigung zwischen Iran, das mit Assad verbündet ist, und den Golfmonarchien, welche die Rebellen unterstützen, aus der sich die Grossmächte USA und Russland heraushalten. Das ist nicht realistisch, aber wenn es einträfe, könnte man sich dem friedenspolitischen Hauptproblem zuwenden: Hunderttausende schwer traumatisierte Syrer, die den Frieden im täglichen Leben umsetzen müssten.
Wie müsste man das anstellen?
Bei einem Trauma von diesem Ausmass stellen sich existenzielle Fragen: Backt der Bäcker noch Brot? Zimmert der Schreiner noch Möbel? Das ist eine Generation, der das Leben gestohlen wurde. In der Friedensforschung rechnet man mit drei Generationen, bis die Bevölkerung eine solche Katastrophe verdaut. Es gibt entsprechende Methoden der Friedensarbeit – ideal wäre eine Identifikationsfigur, die hilft Gräben zu überwinden, wie das Nelson Mandela in Südafrika schaffte. In Syrien ist allerdings keine solche Person in Sicht.
Was könnte das Ausland beitragen?
Die internationale Gemeinschaft müsste in Peacebuilding investieren, um den Frieden zu stabilisieren. Sonst passiert das, was Sie in Afrika sehen, wo sich Ruhe und Gewalt in einer Endlosschlaufe abwechseln. Die meisten gewalttätigen Konflikte brechen nach fünf bis zehn Jahren erneut aus, wenn das Postconflict-Peacebuilding versagt.
Was macht die Situation in Syrien so schwierig?
Die Sieger haben nach dem Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich auf dem Reissbrett in Nationalstaaten unterteilt. Noch heute versuchen die selben Kräfte, Probleme in der Region auf der Basis von Nationalstaaten zu managen. Der Nationalstaat als Modell funktioniert hier aber nicht. Er ist Teil des Problems, nicht der Lösung.
Können sie das an einem Beispiel erläutern?
Nehmen wir an, im Rahmen einer Friedenslösung würde der kurdischen Minderheit mehr Autonomie eingeräumt. In den Nachbarstaaten Türkei, Irak und Iran würde das umgehend Ängste um ihre territoriale Integrität auslösen, weil sie alle die Kurdenfrage seit hundert Jahren nicht gelöst haben. Kommt hinzu: Kurden sind nicht gleich Kurden, sondern unter sich ideologisch, konfessionell, kulturell und familiär zerstritten. Konstruktive Veränderungen müssen unter solchen Bedingungen gleichzeitig überstaatlich, staatlich und lokal stattfinden. Und das ist rechtlich und politisch äusserst schwierig.
Zu den ethno-politischen kommen die konfessionellen Unterschiede.
Das Paradoxe daran ist, dass die Unterschiede gar nicht so gross sind. Judentum, Christentum und Islam sind abrahamische Religionen, die auf einem starken Wahrheitsdenken und auf der Idee von Gerechtigkeit basieren. Man spricht dieselbe Sprache und kennt sich. Doch das verbindet nicht, sondern trennt und erleichtert den gegenseitigen Hass. Gerade wegen der sehr ähnlichen Weltsicht hat sich bei allen ein duales Denken ausgebildet, das zwischen dem guten «wir» und den bösen «anderen» unterscheidet. Und die Botschaft wird auf der jeweils anderen Seiten gut verstanden. Das fördert den Ausschluss, nicht die Gemeinsamkeit.
Was wäre die Alternative zum Nationalstaat?
Die Umma (Gemeinschaft aller Muslime, Anm. d. Red.) ist keine tragfähige Alternative zum Nationalstaat, zumindest heute nicht mehr. In all diesen Religionen gibt es aber auch gerade in dieser Region starke mystische Strömungen, deren Friedenfähigkeit signifikant höher ist als in den dogmatischen Strömungen. Sie bilden überall die Minderheit, wären aber bis zu einem gewissen Grad geeignete Transformatoren, Hoffnungsträger. Aus ihren Kreisen könnte der syrische Nelson Mandela kommen.
Was ist ihr Worst-Case-Szenario für Syrien?
Das Leiden geht weiter bis die Leute einfach nicht mehr können. Dann wird es eine sehr lange Phase des Nicht-Kriegs geben, in der die Menschen und das Land Spielball regionaler und globaler Mächte bleiben. In diesem Nicht-Krieg wird punktuell Friedensarbeit möglich sein, aber ich glaube nicht, dass unsere Generation noch einen Frieden in Syrien sehen wird, der diesen Namen verdient.

Wolfgang Dietrich (56) ist UNESCO-Vorsitzender für Friedensforschung an der Universität Innsbruck. Von 1989 bis 1991 war er Präsident von Amnesty International Österreich. In den 1990er Jahren betrieb er Feldforschung in Konfliktgebieten in der Karibik, Indien, Ostafrika und Südostasien.