Nach DoppelanschlagFlüchtlinge kriegen Wut der Türken zu spüren
Rehanli steht nach dem Doppelanschlag unter Schock. Der Frieden in der Stadt, die über die Grenzen für das friedliche Zusammenleben verschiedener Ethnien bekannt ist, droht am Krieg in Syrien zu zerbrechen.
Reyhanli heisst ursprünglich Paradiesgarten. Doch seit zwei Tagen ist das Leben in der türkischen Grenzstadt alles andere als paradiesisch. Zwei Autobomben mitten im Stadtzentrum kostete mindestens 46 Menschen das Leben, 150 wurden verletzt. Noch immer werden Leute vermisst. Die Explosionen waren so stark, dass zahlreiche Wohn- und Geschäftsgebäude zerstört wurden.
Für die rund 70'000 Bewohner ist der Krieg in Syrien lebensgefährlich nahe gerückt. In den zwei Jahren sahen die Anwohner von Reyhanly Zigtausende über den nur einige Kilometer entfernten Grenzübergang Cilvegözü kommen – rund 300'000 Flüchtlinge aus Syrien hat die Türkei seit Ausbruch des Kriegs aufgenommen. Nach dem Doppelanschlag vom Samstag lassen jetzt einige Bewohner von Reyhanli ihre Wut an den Flüchtlingen aus: Autos mit syrischen Kennzeichen wurden beschädigt, Steine geworfen. Viele syrische Flüchtlinge verschanzen sich. «Jetzt kann ich nirgendwo hin, weder hier noch dort», sagt Flüchtling Ibrahim al-Ibrahim gemäss «New York Times». Am Tag des Anschlags in Reyhanli hatte er erfahren, dass sein Haus in Syrien zerstört wurde.
Wohnungen und Essen für Flüchtlinge
Dabei ist Reyhanli und die Grenzprovinz Hatay, in der die Stadt liegt, für das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker bekannt: Hier wohnen Türken, Araber, Tscherkessen und Kurden seit Jahrhunderten im Guten nebeneinander.
Der Bürgerkrieg im Nachbarland droht diesen Zusammenhalt zu gefährden. «Es herrscht seit längerem Unruhe unter den Leuten dort», sagt der schweizerisch-türkische Doppelbürger Naci E. Erst vor zwei Wochen ist er in seinem Heimatort Reyhanli gewesen. «Weil die Grenze so nahe ist, hört man auch hier Schüsse und Gefechte. Das ist natürlich beängstigend.»
Bislang hätten die Menschen aber zusammengehalten und sich mit den Flüchtlingen sehr solidarisch gezeigt: «Viele haben ihnen Wohnungen, Kleider und Essen zur Verfügung gestellt, auch wenn man sich fragte, wie man diesen nie versiegenden Flüchtlingsstrom verkraften soll. Seit dem Anschlag ist die Angst noch grösser geworden – und viele befürchten, dass die Türkei jetzt noch stärker in diesen Krieg hineingezogen wird.»
«Sozialer Friede muss erhalten bleiben»
Die Stadt stehe seit dem Doppelanschlag unter Schock, so Naci E. «Doch der soziale Friede hier muss erhalten bleiben. Der terroristische Anschlag hat alle Menschen in der Türkei ins Herz getroffen und grosses Leid verursacht. Ich hoffe, dass die Menschen in Reyhanli sehen, dass ihnen allen geschadet wurde.» Jetzt gelte es, ruhig und besonnen zu reagieren: «Wir müssen jetzt erst recht zusammenstehen.»
Derweil hat die türkische Regierung die mutmasslichen Drahtzieher des Anschlags ausgemacht: Es sind neun linksextreme Türken. Diese Mitglieder der «Revolutionären Volksbefreiungspartei/-front» (DHKP-C) sowie einer Splittergruppe der «Türkischen Volksbefreiungspartei-Front» (THKP-C)sollen die Tat in Absprache mit dem syrischen Geheimdienst verübt haben. Die Linksextremisten, in der Türkei für zahlreiche Anschläge verantwortlich, wollen ein kommunistisches System mit marxistisch-leninistischer Prägung. Einige der Festgenommen hätten die Tat teilweise gestanden, so der türkische Innenminister Muammer Güler.
Syrischer Politiker: nur ein «Versehen»
Syrien streitet jede Verwicklung in den Anschlag ab. Ein syrischer Parlamentarier behauptet gar, die Sprengsätze seien von «Terroristen für Anschläge in Syrien» vorbereitet worden und nur versehentlich in der Türkei explodiert. Dagegen spricht jedoch, dass Reyhanli von zwei Explosionen erschüttert wurde: Nachdem die erste Autobombe detoniert war und Helfer herbei eilten, explodierte eine zweite Autobombe – die Handschrift von Terroristen, die auf möglichst viele Opfer aus waren.
Auch der deutsche Terrorexperte Rolf Tophoven ist überzeugt: «Das Assad-Regime versucht alles, um der Türkei zu schaden.» Ob der Anschlag in Reyhanli das Ereignis war, mit dem die «Rote Linie» der Türkei überschritten wurde, wird sich diese Woche zeigen. Dann trifft Ministerpräsident Erdogan, der dazu aufrief, jetzt einen kühlen Kopf bewahren, US-Präsident Obama in Washington.
* Name der Redaktion bekannt