Terrorexperte«Der IS ist für Kriminelle mit einem Todeswunsch»
Europa drohen neue Terroranschläge durch den «Islamischen Staat» – aber nicht nur. Ein Gespräch mit Prem Mahadevan, Terrorspezialist der ETH Zürich.
Es herrscht ein Klima der Verunsicherung. Die Terroranschläge vom 13. November in Paris sind noch kaum verdaut, da warnt die Polizeibehörde Europol bereits vor weiteren grossen Attacken: Die Lage sei «ernster als je zuvor». Ein neues Video, in dem die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) Europa droht, scheint dies zu unterstreichen.
Über die Terrorgefahr, die Anschlagsmethoden des IS und die konkurrierende al-Qaida hat 20 Minuten mit Prem Mahadevan gesprochen, Terrorspezialist am Zentrum für Sicherheitsstudien der ETH Zürich.
Herr Mahadevan, was halten Sie vom neusten Video, in dem der IS mit Anschlägen speziell in Europa droht?
Das Video zeigt die Drahtzieher der Angriffe von Paris, wie sie irgendwo im Mittleren Osten ihre Gräueltaten fortsetzen. Das soll uns im Westen zeigen: «Wir streben nicht nur Angriffe im Westen an, wir trainieren auch dafür und bilden dafür auch Leute aus.» Aber ganz ehrlich: In meinen Augen ist das vor allem Aufschneiderei. Immerhin ist bis heute nicht klar, ob die jüngsten Attacken in Paris auch wirklich von Syrien oder dem Irak aus orchestriert und vorbereitet wurden.
Gerade Frankreich wird immer wieder bedroht. Wieso?
Dafür gibt es vor allem drei Gründe: Erstens spielt Frankreich eine aktive Rolle in Nordafrika, etwa im Kampf gegen die jihadistischen Extremisten in Mali. Schon seit dem Algerienkrieg stellt Frankreich ein altes Ziel für islamistische Terroristen dar. Zweitens: Frankreich stellt eine grosse Zahl von Jihad-Reisenden. Um die 1600 sollen es sein, so genau weiss das niemand. Und drittens führten uns die Attentäter beim «Charlie Hebdo»-Anschlag vor Augen, welch grosse Rolle die Gefängnisse in Frankreich bei der Radikalisierung spielen.
Können Sie das ausführen?
Bis zu 70 Prozent der Gefängnisinsassen sind Muslime. Viele von ihnen werden im Gefängnis leicht für den internationalen Terror rekrutiert, zumal sich viele von ihnen nirgends zugehörig fühlen. Ein gebürtiger Marokkaner mit französischer Staatsbürgerschaft etwa fühlt sich weder in Frankreich zuhause, wo er kaum Aufstiegschancen hat, noch in Marokko, wo er nie zur Schule gegangen ist oder Freunde hat. Doch meiner Meinung nach greift es zu kurz, immer nur nach den Motiven dieser Leute zu fragen. Die IS-Anhänger sind nichts mehr als ein Haufen Krimineller mit einem Todeswunsch. Religion steht für sie im Hintergrund, und sie führen auch keine Rachegelüste gegen den Westen an – im Gegensatz zur al-Qaida, die ihre Anschläge stets mit den Einsätzen des Westens in Afghanistan und dem Irak oder wegen seiner Partnerschaft mit Israel legitimiert.
Wie schätzen Sie den Europol-Bericht ein, der vor Attacken im Stil von «Spezialeinheiten» in Europa warnt?
Europol macht deutlich, dass in Europa kaum jemand mit einem so gut vorbereiteten Attentat wie jenem vom 13. November in Paris gerechnet hat. Man ging davon aus, dass der IS keine direkte Bedrohung für den Westen ist, dass er sich auf die Errichtung seines so genannten Kalifats konzentriert. Wenn schon, dann ging man davon aus, dass vor allem die al-Qaida eine Bedrohung für den Westen darstellt, mit Angreifern, die zuhause mit Sprengstoff hantieren, eigene Bomben bauen, auf eigene Faust agieren. Paris hat uns allen das Gegenteil bewiesen: Die in Europa rekrutierten Angreifer waren gut vorbereitet, schlugen wie Spezialeinheiten zeitgleich an mehreren Stellen zu. Und: Sie nutzten Kontakte zu kriminellen Netzwerken, um an ihre Waffen zu kommen – im Unterschied etwa zur al-Qaida.
Kontakte zu Kriminellen – hängt das auch mit der IS-Rekrutierungspraxis in den Gefängnissen zusammen?
Genau. Die al-Qaida hat ihre Anhänger kaum so rekrutiert. Ihre Anhänger sind grundsätzlich auch älter. Für die Anschläge in Paris wurden Waffen aus der Slowakei verwendet, die durch den Schengenraum geschmuggelt und in Belgien umgebaut wurden – eine neue Praxis für Terroranschläge in Europa, bei denen immer Sprengstoff genutzt wurde. Möglich machen das Kontakte zur organisierten Kriminalität.
Ist der IS für Europa mittlerweile gefährlicher als die al-Qaida?
Nein. Das macht Europol in ihrem Bericht ebenfalls deutlich: Die Grenzen zwischen IS und al-Qaida sind fliessend. Das hat der Angriff auf «Charlie Hebdo» gezeigt, wo ein IS-Anhänger und ein Qaida-Anhänger zusammenarbeiteten. Doch ob IS oder al-Qaida – letztlich haben wir es mit einer neuen Generation von Extremisten und einer neuen Welle von Terroristen zu tun.
Und doch: Die beiden Organisationen konkurrieren miteinander. Erhöht das auch die Terrorgefahr im Westen, wenn jede der anderen etwas beweisen will?
Nicht direkt. Die Konkurrenz zwischen den beiden dürfte allerdings dazu führen, dass sie neue, weiche Ziele ins Auge fassen. Quasi weg von der Bombe im Flugzeug, hin zu mehr Angriffen auf die Infrastruktur und politische Institutionen. Doch was die Konkurrenz zwischen IS und al-Qaida bewirkt, ist eine Zunahme des innovativen Denkens bei den jeweiligen Planern von Anschlägen. Denn je für sich genommen sind die Anschlagsplaner ziemlich einfallslos und dumm. Das zeigen die vielen durch die Sicherheitskräfte vereitelten Anschläge.