«Ein Streichholz – und alles steht in Flammen»

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Westbalkan«Ein Streichholz – und alles steht in Flammen»

In den Ländern des Westbalkans kriselt es. Das betrifft auch über 500'000 Menschen in der Schweiz, die dort ihre Wurzeln haben. Wie ernst ist die Lage?

von
O. Fischer
Als Westbalkan werden die Staaten bezeichnet, die mit dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren entstanden sind und nicht der EU angehören, sowie Albanien. So ist auf dieser Karte von 2008 Slowenien nicht mehr als Westbalkan-Land ausgewiesen, weil es 2004 in die EU eintrat. Inzwischen wird auch Kroatien, seit 2014 in der EU, nicht mehr zum Westbalkan gezählt. Die sechs Westbalkan-Länder sind Bosnien, Serbien, Montenegro, Kosovo, Mazedonien und Albanien.
Der bosnische Premier Denis Zvizdic ist Regierungschef von Bosnien-Herzegowina. Er gehört der bosniakischen Fraktion an.
Das Präsidentenamt teilen sich drei Vertreter der bosniakischen, der kroatischen und der serbischen Bevölkerungsgruppen. Mladen Ivanic ist der serbische Vertreter. Die drei Vertreter wechseln sich alle acht Monate als Vorsitzender des Staatspräsidiums ab. Der bosniakische Vetreter ist Bakir Izetbegovic, der kroatische Dragan Covic.
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Als Westbalkan werden die Staaten bezeichnet, die mit dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren entstanden sind und nicht der EU angehören, sowie Albanien. So ist auf dieser Karte von 2008 Slowenien nicht mehr als Westbalkan-Land ausgewiesen, weil es 2004 in die EU eintrat. Inzwischen wird auch Kroatien, seit 2014 in der EU, nicht mehr zum Westbalkan gezählt. Die sechs Westbalkan-Länder sind Bosnien, Serbien, Montenegro, Kosovo, Mazedonien und Albanien.

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Viele in der Schweiz lebende Menschen sind nach wie vor eng mit ihren Angehörigen in Ex-Jugoslawien verbunden. Egal ob mit Schweizer Pass oder nicht: Sie fühlen sich auch als Serben, Kroaten, Albaner oder Kosovaren.

Seit bald 18 Jahren engagiert sich die Schweizer Armee im Rahmen der friedensfördernden Mission Kfor mit der Swisscoy in Kosovo. Weitere Schweizer Soldaten sind in Bosnien stationiert. Auch finanziell unterstützt die Schweiz die Länder des Westbalkans jedes Jahr mit einem Gesamtbetrag im dreistelligen Millionenbereich.

Grundsätzlich kann die Region seit dem Ende des Kosovo-Krieges 1999 als stabil bezeichnet werden. Dazu hat nicht zuletzt der von der EU in Aussicht gestellte Beitritt der Länder in die Union beigetragen. Doch in den letzten Jahren hat sich die Lage durch verschiedene Entwicklungen in der Region, in Europa und auf der Welt angespannt.

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Wie sieht die Situation in den verschiedenen Ländern heute aus? Wo gibt es welche Spannungen? Drohen neue gewalttätige Konflikte? Die wichtigsten Akteure und ihre Interessen auf dem Westbalkan:

Der Fall Bosnien

Die jüngsten Debatten um den Balkan haben sich an Bosnien entzündet und begannen quasi mit einem Artikel des ehemaligen britischen Diplomaten Timothy Less im Magazin «Foreign Affairs». Unter dem Titel «Fehlfunktion des Balkans» schreibt Less, Bosnien müsste entlang seiner drei grössten ethnischen Bevölkerungsgruppen – Bosnier, Kroaten und Serben – aufgeteilt werden.

Als besonders bedenklich schätzt Jeronim Perovic, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich, die Abspaltungsgelüste von Milorad Dodik, dem Präsidenten der Republika Srpska, ein. «Die Unabhängigkeit würde keines der inneren Probleme der Republik lösen, dafür aber mit ziemlicher Sicherheit neue Konflikte schüren. Selbst Serbien steht diesem Ansinnen skeptisch gegenüber», sagt Perovic zu 20 Minuten.

Matthias Bieri von der ETH Zürich sieht Bosnien in einer Werte- und Identitätskrise. «Das Ziel einer nationalen bosnischen Identität wurde nicht erreicht», bilanzierte er an der ETH-Veranstaltung «Die Krisenregion Balkan im Zeichen europäischer Unsicherheit». Deshalb seien religiöse oder ethnische Identitäten wichtiger geworden. Ein weiteres Problem – nicht nur für Bosnien – ist laut NZZ-Korrespondent Andreas Ernst der wirtschaftliche Rückstand der Region im Vergleich zur EU.

Die Serbien-Kosovo-Frage

2008 erklärte sich der Kosovo einseitig für unabhängig von Serbien – die Schweiz war eines der ersten Länder, die noch im gleichen Jahr den Staat Kosovo offiziell anerkannten. Seither schwelt der Konflikt zwischen den beiden Nationen, zumal im Norden Kosovos eine serbische Minderheit lebt, die mit der aktuellen Situation alles andere als glücklich ist.

Im Januar zeigte sich, dass eine Aussage des EU-Erweiterungskommissars Johannes Hahn in einem Interview mit der «Zeit» womöglich näher an der Realität ist, als der EU lieb sein kann. Hahn sagte in Bezug auf den Westbalkan: «Ich vergleiche das mit einer Pfanne voller Öl. Es reicht ein Streichholz – und alles steht in Flammen.» Serbien schickte zum ersten Mal seit 18 Jahren einen Zug von Belgrad nach Kosovo. An der Grenze stoppte die kosovarische Polizei den Zug, worauf Serbiens Präsident Tomislav Nikolic mit dem Einsatz der Armee drohte: «Wenn Serben umgebracht werden, werden wir die Armee schicken.»

An einen Ausbruch militärischer Gewalt glaubt Andreas Ernst, der in Belgrad lebt, indes nicht: «Die Länder des Balkans, auch Serbien, haben weder die Mittel noch den Willen für einen kriegerischen Konflikt.» Die letzten Kriege seien noch viel zu präsent, als dass sich jemand darauf einlassen würde. Dennoch werde der Konflikt wohl weiter schwelen. «Die meisten serbischen Politiker sind sich bewusst, dass Kosovo für Serbien verloren ist und Serbien unbedingt Frieden und Stabilität braucht, um wirtschaftlich zu prosperieren und den Anschluss an Europa nicht zu verlieren; dennoch kann sich kein Politiker leisten, Kosovo öffentlich abzuschreiben», sagt Jeromin Perovic.

Was passiert in Mazedonien?

Seit zwei Jahren wird das Land zwischen Griechenland und Serbien von innenpolitischen Krisen erschüttert. Wahlfälschung, Druck auf oppositionelle Medien, ethnische Spannungen zwischen Serben, Mazedoniern und Albanern und Korruption sind nur einige der Probleme Mazedoniens. Perovic fasst die Situation zusammen: «Anstatt auf die albanischen Parteien zuzugehen und eine stabile Regierung zu bilden, schürt die nationalkonservative Partei die anti-albanische Stimmung im Land. Aus vermeintlich kleineren Problemen können so schnell grössere Krisen und Konflikte entstehen.»

Erschwerend kommt hinzu, dass der Weg in die EU versperrt ist, blockiert von Griechenland, das den Namen Republik Mazedonien nicht akzeptieren will, wie Matthias Bieri erklärt. Zudem habe die seit über zehn Jahren regierende autoritäre Führung unter Ministerpräsident Nikolai Gruevski ihre Macht zu sehr ausgereizt und damit zuletzt immer heftigeren Widerstand provoziert. Gruevski sah sich im Mai 2016 zwar gezwungen, zurückzutreten, doch bei den Neuwahlen im Dezember schwang seine Partei erneut obenaus. Die EU möge nicht glücklich sein über die Lage in Mazedonien, meint Bieri, doch solange Gruevski die Grenzen für die in Griechenland wartenden Flüchtlinge dichthalte, arrangiere man sich in Brüssel auch mit dem autoritären Anführer.

Kroatien und Slowenien, die Musterknaben?

Slowenien und Kroatien sind den übrigen Balkan-Ländern einen entscheidenden Schritt voraus: Sie sind Mitglied der EU. Andreas Ernst bezeichnet das als eine Art Reifezeugnis. Als Anschauungsbeispiel taugen die beiden aber nur zum Teil. Während Slowenien nach dem EU- und Nato-Beitritt 2004 eine aktivere Rolle übernahm, fiel Kroatien, das seit 2013 jüngstes Mitglied der Union ist, schon nach wenigen Monaten in «balkanische Reflexe» zurück, wie Ernst es nennt. Er meint damit verschiedene rhetorische, aber auch politische Spitzen vor allem gegen Serbien, das nach wie vor in stockenden Verhandlungen mit der EU steckt. Dazu kommt, dass die beiden Staaten nach wie vor einen nicht gelösten Konflikt über den gemeinsamen Grenzverlauf austragen.

Russlands Interventionen

Russland fühlt sich den slawischen Staaten traditionell verbunden, auch wenn Jugoslawien während des Kalten Krieges keinem Block angehörte. Insbesondere die Beziehungen zu Serbien sind gut. Allerdings sollte man Moskaus Einfluss auch nicht überschätzen. Andreas Ernst zitiert einen russischen Diplomaten: «Die Türen wären für Russland offen, aber es besitzt nichts, das es durchtragen könnte.» Dennoch hat der Kreml sein Engagement auf dem Westbalkan seit Beginn der Ukraine-Krise 2014 ausgebaut und sieht die Einflussnahme der EU viel kritischer als in den zehn Jahren davor.

Wie Matthias Bieri in einem Papier zur Lage des Westbalkans im Jahr 2015 schrieb, unterhält Russland auch eine enge Beziehung zur serbischen Teilrepulik Srpska in Bosnien, was dort die Unabhängigkeitsgelüste verstärkt habe. Der zentrale Faktor für Russlands Position in den Westbalkan-Staaten ist aber der Energiesektor: Serbien, Bosnien und Mazedonien sind von den Öl- und Gaslieferungen aus Russland abhängig. Zudem ist der Westbalkan als Öl-und-Gas-Transit-Route von grosser strategischer Bedeutung – vor allem seit der Ukraine-Krise und wegen der angespannten Beziehung zwischen Russland und der Türkei in puncto Syrien.

Ein nicht zu unterschätzender Aspekt der russischen Osteuropa-Politik laut Bieri: Aus russischer Sicht könnte es durchaus attraktiv sein, wenn Moskau wohlgesinnte Regierungen und Länder Teil der EU werden und so die Einflussmöglichkeiten Russlands innerhalb der EU ausweiten.

Gibt es einen Weg in die EU?

Die EU ist der wichtigste politische und wirtschaftliche Partner für die Länder des Westbalkans. Das ist zwar nach wie vor gültig, doch der Einfluss der EU ist in den letzten Jahren schwächer geworden. In den Nullerjahren war Brüssels Wille, die Balkan-Länder aufzunehmen, wenn sie die notwendigen Reformen umgesetzt und die Beziehungen untereinander normalisiert haben, spürbar. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien etwa führte zu einem Investitionsboom.

Davon kann man heute nicht mehr sprechen und die Beitrittsverhandlungen Serbiens, des aussichtsreichsten Kandidaten, stagnieren. In der Folge der Finanz- und Euro-Krise nach 2008 war die EU mit eigenen Problemen beschäftigt. Der Beitrittsstopp, der bis 2020 ausgesprochen wurde, führte in den Ländern des Westbalkans zu Resignation. Und die Frage, ob die EU wirklich das richtige Ziel sei, wird immer öfter gestellt. Die Zweifel, ob die EU überhaupt je wieder den Willen aufbringt, neue Mitglieder aufzunehmen, oder nicht sogar selbst in einem frühen Stadium der Auflösung begriffen ist, werden stärker.

Dennoch bleibt am Ende die EU womöglich die einzige ernsthafte Chance auf wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand für die Region. Denn «Europa kann es sich schlicht nicht leisten, sich aus der Region zu verabschieden», sagt Jeronim Perovic, «egal welche nationalistischen Tendenzen sich in Serbien oder Mazedonien zeigen und welche ethnischen Konflikte in verschiedenen Ländern gären mögen.» Und EU-Beitrittskommissar Johannes Hahn hält am Ziel EU-Beitritt aller Balkanländer fest: «Eine langfristige Befriedung der Region gibt es nur durch die EU-Perspektive.»

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