«Er könnte Totengräber der Türkei werden»

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Experte über Erdogan«Er könnte Totengräber der Türkei werden»

Die Türkei bekommt ein Präsidialsystem, Erdogan ist an seinem Ziel. Was das für Europa und die Türkei bedeutet, sagt Experte Hans-Lukas Kieser.

von
O.Fischer
Überreichen die Petition zur Annullierung des Verfassungsreferendums: Unterstützer der Oppositionspartei CHP am 18. April 2017 in Istanbul.
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Überreichen die Petition zur Annullierung des Verfassungsreferendums: Unterstützer der Oppositionspartei CHP am 18. April 2017 in Istanbul.

AFP/Ozan Kose

Hans-Lukas Kieser, war das Resultat – der Sieg Erdogans mit einer sehr geringen Marge – so zu erwarten?

Klar war die Offenheit des Resultats, es bestand mehr oder weniger eine Pattsituation. Genauso klar war, dass der Möchtegern-Alleinherrscher einen Abstimmungssieg um jeden Preis erstrebte, das heisst auch mit Mitteln weit jenseits demokratischer Standards, und möglicherweise mit Betrug.

Wird Erdogan seine neue Macht angesichts dieses engen Sieges anders nutzen als wenn er mit 60, 70 Prozent gewonnen hätte?

Die Polarisierung der Türkei liegt so offener zu Tage als bei einem deutlichen Sieg. Inwiefern die Opposition den nominellen Sieg anerkennt, ist noch nicht klar. Da liegt viel Konfliktstoff. Auch ein knapper Sieg ermöglicht indes, repressive Macht weiter zu konzentrieren, die in diesem Fall ja noch nötiger ist. Anzeichen von Ausgleich, Kompromiss und Versöhnlichkeit gab es bei Erdogan bisher keine, wenn sein Machtanspruch nicht anerkannt wurde. Allerdings ist Repression keine Garantie für Stabilität.

Wird die Türkei jetzt, wie viele befürchten, zu einem autokratischen Staat oder gar zu einer Diktatur?

Man kann es so oder anders nennen: Die personenzentrierte Machtkonzentration hat jedenfalls einen Sprung vorwärts gemacht und damit die Entfernung von Rechtsstaat und Demokratie. Wir haben es mit einer plebiszitären Autokratie zu tun, die zwar wählen und abstimmen lässt, aber gleichzeitig all jene verfolgt, einsperrt und ökonomisch vernichtet, die sie unter fadenscheinigen Vorwänden als Verschwörer und Terroristen anprangert. Die Türkei war nie eine ausgewachsene Demokratie. Das Tempo ist allerdings atemberaubend, mit dem Erdogan die hoffnungsvollen Ansätze zu demokratischem Pluralismus, auch in der AKP selbst, in wenigen Jahren zerstört hat. Ein grosser Teil des Stimmvolks hat dies erkannt. Erdogan hat die Abstimmung in den Metropolen verloren. Er ist damit noch mehr auf religiöse und nationalistische Kreise in den Provinzen und neu eingebürgerte Syrer angewiesen.

Erdogan hat die Wiedereinführung der Todesstrafe zu einem Hauptziel der nächsten Zeit erklärt. Wird es soweit kommen?

Auch wenn dies wohl primär ein populistischer Trick war, um mehr Stimmen zu ergattern, steht er unter Zugzwang, ein entsprechendes Referendum durchzuführen.

Die EU hat gedroht in dem Fall die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden. Wird das passieren?

Die EU käme zweifellos spätestens dann nicht darum herum, Farbe zu bekennen und ein System, das Gründungsgrundsätze der europäischen Einigung ohrfeigt, von der Schwelle zu weisen.

Damit wäre dann das Flüchtlingsabkommen am Ende. Was hiesse das für die EU?

Das Flüchtlingsabkommen wird seit je überwertet, es lag von Anfang an mindestens so sehr im Interesse Ankaras wie Europas. Die Fluchtroute läuft mittlerweile primär über Nordafrika. Szenarien wie 2015 sind im Ägäisraum kaum zu erwarten. Grosse Teile Nordsyriens sind mittlerweile vom IS befreit.

Drohen zusätzlich mehr Erdogan-kritische Türken und Kurden im Speziellen auszuwandern?

Sicher. Flucht und Auswanderung haben bereits jetzt beträchtliche Dimensionen angenommen. Nicht nur explizit Erdogan-kritische, sondern zum Beispiel viele Akademiker, die das repressive Klima massiv in ihrer Arbeit behindert, suchen Auswege.

Wie kann und wird die Nato reagieren?

Die Nato ist, so die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte, primär keine Wertegemeinschaft, sondern folgt militärstrategischer Logik. Daher erwarte ich von ihr vorderhand nicht mehr als verbale Beschwichtigung.

Was wird Erdogan mittel- und langfristig mit seiner Macht ausrichten können und wollen?

Er ist zwar ein recht gewiefter Machtpolitiker. Aber er ist sunnitisch-islamistisch orientiert und hegt neo-osmanische Träume. Vor allem weiss er, entsprechende Saiten bei seiner Anhängerschaft rhetorisch zu bespielen. Er könnte zum Totengräber nicht nur – was jetzt geschieht – der bis anhin noch unterschwellig kemalistischen Republik, sondern der Türkei insgesamt, wie wir sie seit 1923 kennen, werden.

Was heisst das Resultat für die türkische Wirtschaft und damit die Bevölkerung? Droht ein Exodus von Investitionen?

Wirtschaft- und Finanzwelten reagieren oft kurzfristig, opportunistisch. So kommt es, dass autoritäre Wendungen nicht selten «belohnt» werden. Langfristig ist der Boden morsch. Mit schweren Krisen muss gerechnet werden. Eine entscheidende Frage ist, inwiefern der Mann an der Spitze vergleichsweise rationalen Beratern pragmatisch Raum lässt, zumal es um den eigenen Machterhalt geht.

Hans-Lukas Kieser ist Professor für Geschichte an der Universität Zürich und Spezialist für die Türkei.

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