«Islamisten wollen Europa blamieren und demütigen»

Aktualisiert

Psychologischer Effekt«Islamisten wollen Europa blamieren und demütigen»

Warum Ort und Zeitpunkt des Anschlags in London grosse Symbolwirkung haben, weiss der deutsche Terrorismus-Experte Stephan Humer.

K. Kocher
von
K. Kocher
Die Metropolitan Police London veröffentlicht Fotos: Der beim Attentat verwendete Lieferwagen.
Die Attentäter hatten offenbar einen Plan B: Im Lieferwagen wurden 13 Weinflaschen mit brennbarer Flüssigkeit gefunden.
Ein Messer der Attentäter.
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Die Metropolitan Police London veröffentlicht Fotos: Der beim Attentat verwendete Lieferwagen.

Keystone/Metropolitan Police London

Es ist bereits die dritte Terrorattacke in England in diesem Jahr. Warum trifft es das Land immer wieder?

Stephan Humer: Grossbritannien ist neben den USA einer der grössten Akteure im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus und im Nahen Osten mit grossem militärischen Engagement präsent. Das macht das Land als Angriffsziel für Terroristen besonders interessant. Zudem gibt es in Grossstädten wie London eine relativ grosse Islamistenszene. Eine grosse Rolle spielt auch die hohe militärische sowie politische Symbolwirkung, die an einem anderen Ort niemals dieselbe wäre. Ein weiterer Faktor: Eine Stadt in Grossbritannien ist einfacher anzugreifen als etwa eine israelische, wo Militär und Polizei viel stärker aufgerüstet und präsent sind. Europäer leben viel offener, sind dadurch auch verwundbarer. Wenn man weiss, dass man einen sensiblen Zeitpunkt – kurz vor Wahlen – erwischt, ist das eine zusätzliche Motivation für Terroristen.

Kann man hier wieder von islamistischem Terror ausgehen?

Ja. Zwar gibt es noch niemand, der sich offiziell dazu bekennt, der Islamische Staat hat auf entsprechenden Kanälen aber mindestens sehr darüber gejubelt. Die grosse Begeisterung ist schon ein Indiz, dass es in diese Richtung gehen dürfte. Wir wissen aber auch, dass der IS relativ locker ist, was die Zuordnung solcher Taten angeht. Sobald auch nur der Hauch einer Verbindung besteht, reklamiert er das ja gleich für sich. Eine nicht islamistische Verbindung wäre auf jeden Fall eine sehr grosse Überraschung. Die Vorgehensweise deckt sich mit Anschlägen aus der Vergangenheit. Dahinter steckt auch ein psychologischer Effekt, der typisch ist für Islamisten: Wenn dieselbe Tat immer wieder verübt werden kann, ohne dass unterm Strich wirklich etwas passiert, sieht das nach einer Blamage der Zielländer aus, soll eine Demütigung herbeiführen. Für die Bevölkerung ein fatales Signal.

In wenigen Städten weltweit ist die Überwachung so stark wie in London. Trotzdem konnte der jüngste Anschlag nicht verhindert werden.

Genau, weil etwa Überwachungskameras fast ausschliesslich polizeilich interessant sind für die Aufklärung von Straftaten. Einen Selbstmordattentäter hält dies kaum auf, sie nehmen ihre Tötung ja bewusst in Kauf. Wenn man etwas wirklich verhindern will, muss man unmittelbar reagieren können – Kameras helfen in der Regel überhaupt nichts.

Was würde helfen?

Eine 100-prozentige Sicherheit gegen Angriffe wird es nie geben. Es wird sich jetzt automatisch die Frage stellen, inwieweit auch die Entwaffnung der britischen Polizei und Bevölkerung eine Rolle spielt. In Israel etwa ist man dazu übergegangen, dass Polizisten auch in ihrer Freizeit Waffen tragen und Täter sehr frühzeitig zu eliminieren. Ob man das möchte, wird jetzt Teil der Diskussion sein. In London ist es etwa verboten, Pfefferspray auf sich zu tragen. Einige Parteien dürften sich nun für eine Verschärfung der Sicherheitsmassnahmen – auch was den Einzelen anbelangt – stark machen. In der Berichterstattung hat man auch gesehen, dass die britische Bevölkerung die Haltung von «run, hide, tell» (dt. weglaufen, verstecken, Polizei rufen) einnimmt. Das ist ja sehr defensiv und dürfte zumindest politisch jetzt in eine andere Richtung gehen.

Die drei Verdächtigen sind tot. Kann man zu deren Profil schon etwas sagen?

Noch sind keine Details bekannt, aber aufgrund der Erfahrung wäre es unrealistisch, wenn es um absolute Spontantäter handelte. Schon nach dem Anschlag in Manchester befürchtete man, dass weitere Personen unterwegs sind, die mit der Tat in Verbindung stehen. Ein Zusammenhang wäre durchaus realistisch. Dass der Anschlag von mehreren Personen verübt wurde, deutet zumindest auf eine Form von Strukturierung und Netzwerk hin. Auch wenn keine der grossen Terrororganisationen, wie dem Islamischen Staat, dahinter stecken sollte, hatten solche Täter meist mindestens eine digitale Kommunikation Richtung Syrien.

Der Anschlag fand im Monat des Ramadan statt. Warum?

Der symbolische Effekt steht hier ganz klar wieder im Vordergrund, das Thema Islam wird bei einem Anschlag während des Ramadans extra betont. Ziel der Islamisten ist es, Schrecken zu verbreiten, die Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen – für noch mehr Wirkung bieten sich hohe Feiertage oder eben die Fastenzeit an. Wenn sich die Menschen in Europa in ihrer Freiheit selbst zu beschneiden anfangen, nach mehr Überwachung rufen, sich per se vor in Moscheen betenden Menschen fürchten, ist das durchaus im Interesse der islamistischen Terroristen.

Heute Abend findet das Benefizkonzert in Manchester statt, das vor rund zwei Wochen von einer Attacke betroffen war. Müsste das abgesagt werden angesichts der Sicherheitslage?

Das ist immer sehr zwiespältig und hängt auch von den betroffenen Personen vor Ort ab. Im Zweifel ist es wohl aber immer besser, geplante Dinge eher umzusetzen als abzusagen, weil eine Durchführung den Terror zumindest ein bisschen entkräftet.

Was bedeutet der Anschlag für die Parlamentswahlen von nächster Woche?

Es gibt mehrere Stimmen die sagen, man sollte sie aussetzen. Premierministerin Theresa May steht vor einer grossen Herausforderung. Sie muss noch einen drauflegen, hoffen dass ihre Massnahmen funktionieren und die Bevölkerung überzeugen. Passiert in den nächsten Tagen nochmals etwas, leidet Mays Glaubwürdigkeit. Es wird spannend sein, welche politischen Auswirkungen der Anschlag so kurz vor den Wahlen mit sich bringt. Möglich wäre etwa eine besonders hohe Wahlbeteiligung von traditionellen Nichtwählern, was in politischen Ausnahmesituationen immer wieder vorkommt.

Was braucht England jetzt am dringendsten?

Trotz allem muss man darauf hinweisen, dass ein solches Ereignis in unserer Region immer noch eher selten vorkommt und unseren Alltag nicht direkt beeinträchtigt. Wir leben nicht in einer Region, in der Terroranschläge zu unserer Tagesordnung gehören. Natürlich muss man Opfern und deren Familien Respekt zollen. Die Gesellschaft muss aber dafür sorgen, dass sie sich in ihrem Leben nicht einschränken lässt – das wäre ein Sieg für die Terroristen. Wir erleben hier keine Epidemie, sondern Einzelfälle. Und das muss so bleiben.

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