Pistorius vor GerichtKann er unschuldig sein, obwohl er getötet hat?
Morgen geht der Prozess gegen Oscar Pistorius in die zweite Runde. Hier sind die wichtigsten Fragen und Antworten zum spektakulären Gerichtsfall in Südafrika.
Die Verhandlung gegen Oscar Pistorius wird ab Montag nach über zwei Wochen Pause fortgesetzt. Anklage und Verteidigung werden wieder alles daransetzen, um den Prozess zu gewinnen. Die wichtigsten Fragen und Anworten helfen, ihre Strategien besser zu verstehen.
Wessen ist Pistorius angeklagt?
Pistorius muss sich wegen des Mordes an Reeva Steenkamp und wegen Verstössen gegen das Waffengesetz verantworten.
Bleiben wir bei der Mordanklage: Pistorius sagt, es habe sich um ein Versehen gehandelt. Was gilt in diesem Fall?
Grundsätzlich gilt: Schuld bleibt Schuld, egal ob man die Zielperson tötet oder ob man jemanden tötet, den man mit der Zielperson verwechselt hat. Man nennt dies im südafrikanischen Recht einen «unwesentlichen Irrtum» («inessential error»). Pistorius schildert den Vorfall genau so: Er hat den Menschen getroffen, den er treffen wollte – die Person nämlich, die sich hinter der verschlossenen Tür im WC befand. Dass es sich dabei nicht um einen Einbrecher, sondern um seine Freundin Reeva gehandelt habe, sei eine tragische Verwechslung, so Pistorius.
Aber der «Blade Runner» wollte sich doch verteidigen? Ist er dann trotzdem noch schuldig?
Nicht unbedingt. Wenn das Gericht zum Schluss kommt, dass er einen Einbrecher im WC wähnte und sich und Reeva vor einem Angriff verteidigen wollte, dann würde er freigesprochen.
Wird Pistorius also freigesprochen, wenn ihm die Richterin glaubt, dass er «nur» einen Einbrecher töten wollte?
Nein, das genügt nicht. Pistorius muss auch glaubwürdig darstellen, dass er sich tatsächlich gegen einen Angreifer verteidigen musste. Dazu gelten folgende Richtlinien: Selbstverteidigung kann man nur dann geltend machen, wenn man rechtswidrig angegriffen wird und der Angriff bereits stattfindet. Ausserdem muss das eigene Leben, die körperliche Unversehrtheit oder ein wertvoller Besitz oder jemand anders bedroht sein. Damit nicht genug: Die Gewalt, die man zur Selbstverteidigung ausübt, muss zudem gegen den Angreifer – und niemanden sonst – gerichtet sein. Und schliesslich muss die Gewalt, die man zur Selbstverteidigung ausübt, nötig und dem Angriff angemessen sein. Erst wenn alle diese Punkte zutreffen, wird man vom Tötungsvorwurf freigesprochen.
Mit welchen Argumenten verteidigt sich Pistorius?
Bei seinen Einvernahmen vor Prozessbeginn hat Pistorius genau so argumentiert: Er sagte, er habe einen Einbrecher im Haus vermutet und sich und Reeva Steenkamp verteidigen wollen. Der Tod seiner Freundin sei ein tragischer Irrtum gewesen. Aus diesen Gründen sei er unschuldig.
Bei seinen Aussagen vor Gericht sprach Pistorius aber plötzlich davon, dass er gar nicht habe schiessen wollen, sondern dass die Waffe «von selbst» losgegangen sei.
Das stimmt. Seine Anwälte scheinen tatsächlich die Taktik geändert zu haben. Bei seinen Aussagen vor Gericht sagte Pistorius erstmals, er habe gar nicht schiessen wollen. Die Waffe sei «irgendwie losgegangen» und er habe seine Handlungen nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Juristen sprechen hier von «involuntariness», also Unfreiwilligkeit. Allerdings wirkte Pistorius im Zeugenstand, als wisse er selber nicht genau, welche Strategie jetzt gilt.
Ist seine neue Strategie der unkontrollierbaren Handlung Erfolg versprechend?
Es ist durchaus möglich, dass man jemanden tötet, weil man seine Handlungen nicht kontrollieren kann. Die Rechtsprechung führt als Beispiel unkontrollierbare Bewegungen während eines epileptischen Anfalls an. Oder auch Handlungen während des Schlafwandelns. Die Gerichte gehen aber grundsätzlich davon aus, dass man bewusst handelt. Die Verteidigung muss also glaubwürdig darlegen, weshalb Pistorius die Kontrolle über seine Handlungen verloren haben soll. Ob ihr das gelingt, bleibt abzuwarten.
Als Quelle für diesen Artikel dienten die Analysen von James Grant, Kriminalrechtsprofessor an der University of Witwatersrand in Johannesburg. Wer sich tiefer mit den Detailfragen der südafrikanischen Rechtssprechung auseinandersetzen will und des Englischen mächtig ist, wird hier fündig.