Der Autor«Für 2000 Dollar über die Grenze»
Fabrizio Gatti ist getarnt als Flüchtling von Senegal über Libyen nach Italien gereist. Er kennt die Routen der Schlepper. Dass Europa ein Flüchtlingsansturm bevorsteht, glaubt er nicht.
In Ihrem Buch «Bilal» beschreiben Sie eindrücklich den langen, mühsamen und gefährlichen Weg der Flüchtlinge von Afrika nach Europa. Wie haben sich die Flüchtlingsrouten mit den Umstürzen in der arabischen Welt geändert?
Vorerst nicht gross. Die letzte grosse Änderung gab es mit dem Abkommen zwischen dem libyschen Diktator Gaddafi und dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi im Sommer 2009, bei dem sich Libyen als williger Gendarm erwies und Flüchtlinge davon abhielt, nach Italien zu gelangen. Dass in den nächsten Tagen vor Lampedusa plötzlich ein Schiff mit Flüchtlingen auftauchen wird, kann in der jetzigen instabilen Situation in Nordafrika zwar nicht ausgeschlossen werden. Es ist aber eher unwahrscheinlich. Seit 2009 führt der Weg nach Europa über die Türkei und Griechenland.
Weshalb diese Route?
Sie müssen sich Schlepper wie Angestellte eines Reisebüros vorstellen. Manche führen tatsächlich kleine Büros, die nach den gleichen Prinzipien wie Reisebüros funktionieren. Wenn eine Destination ausgebucht ist oder Reisen dorthin nicht mehr möglich sind, dann offerieren sie ein Alternativangebot.
Und weshalb Griechenland?Für Griechenland als Eintrittstor nach Europa sprechen mehrere Gründe. Einerseits wehrte sich Griechenland in der Vergangenheit lange nicht gegen die Einreise von Afrikanern, weil das Land auf billige Schwarzarbeiter angewiesen war. Besonders auffällig war das vor den Olympischen Spielen 2004, als die Griechen mit dem Bau der Olympia-Anlagen stark im Verzug waren.
Derzeit geht von der griechischen Wirtschaft jedoch kaum eine Anziehungskraft aus.
Nein, aber der Weg nach Europa über Griechenland ist viel einfacher als eine riskante Überfahrt auf dem Meer.
Wie einfach?
Bis in die Türkei kommen die meisten auf legalem Weg. Das Land hat für Menschen aus vielen afrikanischen Staaten die Visumspflicht abgeschafft, da es sich für die afrikanischen Märkte öffnen will. Zudem kann die Türkei damit die EU bei Verhandlungen über einen EU-Beitritt unter Druck setzen. Wer das «Flüchtlingsventil» in der Hand hat, ist in einer vorteilhaften Verhandlungssituation. Das war bei Gaddafi nicht anders.
Bleiben wir noch einen Moment bei den Flüchtlingen. Wie gelangen diejenigen in die Türkei, für die es keinen legalen Weg gibt?
Sie verstecken sich im Kielraum eines Frachters, auf einem Fischerboot oder fahren mit gefälschten Dokumenten auf einem Linienschiff nach Izmir. Selbst von der libyschen Stadt Benghazi aus ist es ein Leichtes, mit dem Schiff nach Izmir zu gelangen. Dort besteigen sie einen Bus oder fahren per Autostopp nach Istanbul.
Und dann?
Von Istanbul kann man mit einem Bus bis ins Grenzgebiet fahren. Was die Flüchtlinge dann noch von Europa trennt, ist ein zwölfstündiger Fussmarsch vorbei an Minenfeldern sowie die Übersetzung über den rund hundert Meter breiten Grenzfluss Mariza mit einem Gummiboot. Dramatisch ist an diesem Weg, dass die Temperatur derzeit zehn Grad unter Null ist. Viele sind in den letzten Tagen erfroren.
Sie kennen die Situation offenbar sehr genau.
Ich komme eben erst von dort zurück. Mitte Februar war ich für eine Reportage, die am Freitag in der Wochenzeitschrift «l'Espresso» erscheinen wird, während zweieinhalb Wochen vor Ort.
Können Sie beschreiben, was sie dort gesehen haben?
Die Überfahrt mit den Gummibooten ist sehr hart. Die Schlepper pferchen bis zu acht Flüchtlinge auf ein Boot für vier Personen. Die Strömung des Flusses müssen Sie sich etwa so vorstellen wie die der Aare bei Bern. Wenn die Schlepper keinen geeigneten Landeplatz finden, werfen sie die Flüchtlinge vor dem Ufer ins Wasser. Wer nicht schwimmen kann, geht im eisigen Wasser sofort unter. Die anderen retten sich völlig durchnässt an den Strand. Manche verlieren im Treibsand ihre Schuhe und müssen barfuss weitergehen. Ich habe Menschen mit Eis in den Haaren gesehen.
Was kostet eine solche Flucht?
Für einen Platz auf dem Gummiboot verlangen die Schlepper 2000 Dollar.
Ein Gummiboot zu kaufen wäre günstiger.
Der Vorteil der Schlepper ist, dass sie das Gebiet gut kennen. Sie wissen, wo mögliche Landeplätze sind und wie man von dort weiterkommt. Wer aus Asien kommt, bezahlt übrigens nochmals etwa gleich viel, um über den Iran in die Türkei einzureisen. Die Flüchtlinge sind auf Schlepper angewiesen, die sie durch Kurdistan schleusen.
Was kostete denn eine Überfahrt von Libyen nach Lampedusa, als das noch möglich war?
Die Preise variierten zwischen 800 Euro für Maghrebiner und 1500 Euro für Menschen aus Schwarzafrika. Die Schlepper erzielten Gewinne, selbst wenn ihre Schiffe bei der Überfahrt untergingen. Denn die Flüchtlinge bezahlten im Voraus.
Ein Drecksgeschäft.
Natürlich. Vor allem, wenn man bedenkt, dass damals ein schäbiger Kahn, der 350 Flüchtlingen Platz bot, für 20 000 Euro gekauft werden konnte. Dazu brauchte es noch Treibstoff für 1500 Euro und 5000 Euro, um die lokale Polizei zu bestechen. In den Jahren vor dem Abkommen zwischen Berlusconi und Gaddafi ist praktisch jeder Kahn, der gerade noch so schwamm, von Schleppern gekauft worden.
Gibt es denn heute überhaupt noch Schiffe, um von Tunesien, Libyen oder Ägypten zu flüchten?
Das ist ja gerade der Punkt. Europa sorgt sich, dass 300 000 Flüchtlinge kommen könnten. Ob diese Zahl realistisch ist, sei dahingestellt. Klar ist aber, dass sie auf jeden Fall nicht mit Schiffen nach Europa kommen können, weil dazu schlicht die Schiffe fehlen. Es sei denn, die Flüchtlinge kaperten einen Frachter. Das ist aber eher unrealistisch.
Was ist mit dem Landweg? Die Flüchtlinge könnten über Griechenland kommen.
Das schon. Hier stellt sich aber die Frage, innerhalb welchen Zeitraums das geschehen würde. Es dauerte ja nur schon zwei Wochen, um 3500 Europäer aus Libyen zu evakuieren.
Also sind die Sorgen der Politiker unbegründet?
Rechtskonservative Politiker missbrauchen die Situation, um Ängste zu schüren. Viele Afrikaner, die bis zum Ausbruch der Unruhen in Libyen arbeiteten, wollen gar nicht nach Europa. Die meisten wollen nach Hause. Es würde daher reichen, wenn Europa Schiffe organisierte, um diese Menschen nach Ägypten zu bringen.
Das ist alles?
Nein, es bräuchte auch ein Umdenken. Entlang der griechisch-türkischen Grenze setzt der Grenzschutz Helikopter mit Nachtsichtgeräten ein. Damit sieht man zwar, dass Flüchtlinge die Grenze überschreiten, an der Situation ändert sich aber nichts. Es wäre wesentlich günstiger, Decken und Thermosflaschen mit heissem Tee auf der griechische Seite der Mariza bereitzuhalten. Aber das macht natürlich weniger Eindruck.
Eindrücklich sind derzeit die Bilder, die uns aus dem Grenzgebiet zwischen Tunesien und Libyen erreichen.
Da bin ich gleicher Meinung. Die Hilfsorganisationen sollten ihr Engagement auf dieses Gebiet konzentrieren. Sonst haben wir dort in wenigen Tagen die ersten Hungertoten. Mir ist schleierhaft, worauf Europa noch wartet. Die italienische Regierung hat mittlerweile eine humanitäre Aktion in Tunesien beschlossen. Aber es geht alles so lange. Wenn es auf Haiti ein Erdbeben gibt, dann gehen alle sofort hin. Weshalb hier nicht? Stattdessen kümmert sich Europa darum, wie hoch die Zahl der möglichen Flüchtlinge sein könnte, ob das Benzin teurer wird und welchen Einfluss diese Situation auf die Wirtschaft haben wird.
In der Schweiz fragt man sich zudem, wie es möglich ist, das Flüchtlinge über Italien in die Schweiz kommen können, ohne zuvor in Italien registriert zu werden.
Ganz Europa zeigt jetzt mit dem Zeigefinger auf Italien, Spanien und Griechenland. Es heisst, diese Länder seien die Schwachpunkte der Schengen-Aussengrenze. Dabei geht immer vergessen, dass lediglich 13 bis 15 Prozent der Menschen, die sich illegal in Europa aufhalten, über das Meer gekommen sind. Der Grossteil reist legal mit einem Visum ein und bleibt dann einfach hier. Die Menschen, die täglich in Frankfurt oder Amsterdam landen, sorgen in den Medien aber nicht für Aufsehen.
Wie beurteilen Sie die Flüchtlingspolitik der Schweiz? Sie sind ja vor zwölf Jahren für eine Reportage selbst «illegal» in den Kanton Tessin eingereist.
An der Schweiz sollten sich die anderen Länder orientieren. Asylsuchende erhalten viel Hilfe. Für Wirtschaftsflüchtlinge ist es hingegen fast unmöglich, in die Schweiz zu kommen. Dabei ist es ja nicht verwerflich, wenn jemand auswandert, um zu versuchen, sein eigenes Leben zu verbessern. Aus demselben Grund besuchen wir Schulen, machen Ausbildungen, gehen studieren.
Menschen mit schlechten Qualifikationen finden in der Schweiz aber keine Arbeit – ausser Schwarzarbeit.
Das ist ein Problem, dass wir in Italien gut kennen. Statistiker gehen davon aus, dass 23 Prozent des italienischen Bruttoinlandprodukts durch Schwarzarbeit generiert werden. Konkret bedeutet das: Wenn sich ein junger Mann in Afrika um ein Visum für Europa bemüht, erhält er keines, weil er dazu einen Arbeitsvertrag und ein Einladungsschreiben vorweisen müsste. Aber würden sie jemanden anstellen, den sie nie zuvor gesehen haben?
Nein.
Gleichzeitig hat der junge Mann aber vielleicht einen Cousin in Italien oder Frankreich. Dann sagt dieser: «Komm hierher! Ich habe eine Unterkunft und einen Job für dich gefunden, leider nur Schwarzarbeit, aber immerhin einen Job.» Wenn Sie am Stadtrand von Kairo oder Dakar wohnen, gelten Sie schon fast als Verrückter, wenn Sie ein solches Angebot ausschlagen.
Was sollte Europa Ihrer Meinung nach jetzt tun?
Die Staaten, die Gaddafi aufgerüstet und jahrelang von den Wirtschaftsbeziehungen profitiert haben, stehen jetzt in der Pflicht. Das oberste Ziel muss sein, Gaddafi sofort zu entwaffnen. Gleichzeitig sollte mit den Menschen rund um Benghazi diplomatischer Kontakt aufgenommen werden. Ein Bürgerkrieg muss unbedingt vermieden werden. Wenn es aber nicht anders geht, müsste die UNO den Druck stufenweise erhöhen.
Woran denken Sie dabei?
Es braucht eine No-Fly-Zone, damit der libysche Diktator nicht mehr mit Flugzeugen angreifen kann. Hält er sich nicht daran, müsste die UNO Gaddafi mit Gewalt stoppen.
Glückskette eröffnet Konto für Nordafrika
Die Glückskette hat am Donnerstag ein Sammelkonto für Nordafrika eröffnet. Ziel der Sammlung ist Hilfe für die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen. Mehr als 180'000 Menschen seien bereits auf der Flucht vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in Libyen und suchten Schutz in Tunesien und Ägypten. Viele von ihnen versuchten in ihre Heimatländer weiterzureisen. Mit den Spenden wird die Glückskette ihre Partnerhilfswerke unterstützen.
Spenden für die Glückskette sind möglich auf das Postkonto 10-150006 mit dem Vermerk «Nordafrika» oder online unter www.glueckskette.ch. PostFinance Kundinnen und Kunden können zudem gratis am Postomat oder per SMS spenden. (SDA)

«Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa» ist ein Handbuch, das die Hintergründe des Flüchtlingsstroms nach Europa erklärt. Enthüllungsjournalist Fabrizio Gatti beschreibt darin, wie er im Selbstversuch von Dakar über die Sahara nach Tripolis gelangte und seine Odyssee als «Flüchtling» durch Italien.