«Ich war Kriegsgefangener in der Schweiz»

Aktualisiert

Straflager Wauwilermoos«Ich war Kriegsgefangener in der Schweiz»

Der US-Militärflieger James Misuraca denkt mit gemischten Gefühlen an seine Internierung in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. «20 Minuten» sprach mit ihm.

Martin Suter
New York
von
Martin Suter
New York

«Das Essen war grauenhaft, wir waren ständig hungrig», erinnert sich James Misuraca. Er und seine Mitgefangenen mussten das Stroh auf hölzernen Kajütenbetten mit Läusen teilen. «Man wollte an uns ein Exempel statuieren.»

Der 92-jährige Veteran der US-Luftwaffe, der in Florida mit seiner Frau Bobby den wohlverdienten Lebensabend verbringt, spricht nicht von einem deutschen KZ. Seine Gedanken drehen sich um das Schweizer Straflager Wauwilermoos beim luzernischen Sursee, wo der damalige Leutnant 1944 zwei schreckliche Wochen verbringen musste.

Gleich behandeln wie Kriegsgefangene

Misuraca gehört zu 142 früheren amerikanischen Militärfliegern, die in den nächsten Monaten mit einer Medaille als «Prisoner of War» - Kriegsgefangene - geehrt werden. Nach über einem Jahrzehnt der Bemühung hat der Army-Historiker Dwight Mead im US-Kongress durchsetzen können, dass in der Schweiz Internierte von den Streitkräften gleich behandelt werden wie amerikanische Gefangene in Krieg führenden Ländern.

Die «POW»-Medaille soll dazu beitragen, dass künftig niemand mehr die in neutralen Ländern festgehaltenen Soldaten als Feiglinge betrachtet. «Das Wichtigste ist die Anerkennung», sagt Misuraca. Die Medaille «macht klar, dass wir das waren, was wir immer gesagt haben: Internierte, die im Krieg ihren Job taten wie alle anderen.»

Über Deutschland ging alles schief

Beim Start der Staffel in England am 24. April 1944 erwartet der Waffenspezialist der US Army Air Force einen Bombenflug wie viele vor ihm. Der B-24-Bomber mit seiner zehnköpfigen Besatzung soll eine strategisch wichtige Düsenflugzeugfabrik bei Augsburg angreifen. Doch mitten über Deutschland fällt in Folge eines mechanischen Defekts einer der vier Propellermotoren aus. «Wir konnten unserem Geschwader nicht mehr folgen», erinnert sich Misuraca. Als Flugabwehrfeuer die Treibstoffzufuhr beschädigt, wird dem Piloten klar, dass er nicht mehr nach England zurückkehren kann. Er entscheidet, in die Schweiz zu fliegen.

Über helvetischem Territorium wird der Bomber sogleich von zwei Schweizer Jagdflugzeugen abgefangen. «Sie wackelten mit den Flügeln und forderten uns so auf, ihnen zu folgen», sagt Misuraca. Die B-24 wackelt zurück und landet samt Eskorte auf dem Militärflugplatz in Dübendorf. «Wir wurden durchsucht, und man nahm uns die Waffen weg», sagt der Veteran. Ausser Name, Rang und Matrikelnummer habe er aber nichts gesagt.

Flucht aus den Berghotels

Nach drei Wochen Quarantäne im neuenburgischen Chaumont werden die Amerikaner im Hotel Palace in Adelboden untergebracht. «Wir wurden von den Soldaten sehr gut behandelt und konnten manchmal mit auf Wanderungen gehen», sagt Misuraca. «Die Essensrationen waren gleich gross wie die der Soldaten. Bessere Pilze hatte ich vorher noch nie gegessen.»

Nach sechs Monaten, als die Alliierten sich von Frankreich her der Schweizer Grenze näherten, setzen sich die ersten Internierten ab. Zusammen mit einem Kameraden entschliesst sich auch Misuraca zur Flucht. Die zwei beschaffen sich falsche Pässe, werden dann aber nach Davos-Platz versetzt. Die zwei Wochen dort seien die besten des ganzen Schweiz-Aufenthalts gewesen, sagt er. «Ich hatte auch ein Sweetheart, mit dem ich ausging.»

Fluchtversuch mit Folgen

Dennoch sind die Offiziere ihrer Unfreiheit überdrüssig. Misuraca und sein Offizierskollege fahren nach Genf, doch sie werden erwischt, als sie den Grenzzaun überklettern wollen. Sie versuchen ein zweites Mal zu fliehen und werden erneut gefasst. Jetzt werden sie in ein Lager verfrachtet, von dessen Existenz die Öffentlichkeit nichts wusste: Wauwilermoos.

Misuraca erinnert sich genau an den doppelten Stacheldrahtzaun, an die Flutlichter, die Wachhunde, das miserable Essen. Die zehn Baracken für je etwa 25 Insassen hätten so ausgesehen wie deutsche Konzentrationslager, sagt der Bombenflieger. In schlechtester Erinnerung behält er den Lagerleiter, einen Hauptmann namens André Béguin. «Alle wussten, dass er ein Nazi-Sympathisant war», sagt Misuraca. «Er trug sogar eine Nazi-Uniform.» Béguin habe das Camp geleitet nach dem Grundsatz: Keine Gnade. «Er war ein böser Mensch.»

Insassen absichtlich gequält

Inspektoren des IKRK seien nach Wauwilermoos gekommen, aber die Lagerleitung habe ihnen nicht alles gezeigt, sagt Misuraca. Nach dem Krieg habe man ein Zimmer voller Briefe und Rotkreuzpakete gefunden, die den Insassen vorenthalten wurden. Béguin wurde später wegen Diebstahls angeklagt, aus der Armee ausgeschlossen und landete für dreieinhalb Jahre hinter Gittern.

Trotz der Umstände schaffen es die Air-Force-Offiziere, zu dritt aus dem Lager auszubrechen. Nach einem Marsch nach Westen durch den Oktobernebel verbringen sie die Nacht in feuchter Kälte. Durchfroren klopfen sie bei einem Landgasthof an. Die Tür öffnet ein etwa 16-jähriges Mädchen mit zwei blonden Haarzöpfen. «Genau so hatte ich mir an der High School Heidi vorgestellt», sagt Misuraca.

Militärattaché protestiert

Die Heidi hilft den Amerikanern. Sie kontaktiert die US-Vertretung in Bern, wo man sich sofort der zwei Offiziere annimmt. Als sie von Wauwilermoos erzählen, staunen die Diplomaten. «Es war das erste Mal, dass sie von dem Lager erfuhren.» Misuracas Gruppe wird für ein paar Tage in der Residenz des US-Militärattachés, Brigadier Barnwell Legge, untergebracht, bevor man sie zur Grenze fährt und am 1. November 1944 ausser Landes bringt.

Die Amerikaner reagieren sofort auf die Entdeckung des Lagers. Schon zwei Tage später besichtigt Legge das Wauwilermoos. In der Folge protestiert er bei den Schweizer Behörden dagegen, dass dort Internierte schlechter behandelt würden als in anderen Ländern Kriegsgefangene.

Die Schweiz gibt nach

Auf den starken US-Druck hin lenkt Divisionär Ruggero Dollfus ein, der Chef des für die Lager zuständigen Kommissariats für Internierung und Hospitalisierung. Dollfus beschliesst, die Haftbedingungen für die Amerikaner im Wauwilermoos sofort zu lockern und zur Entlastung den Bau einer zweiten Anlage in Angriff zu nehmen. Jedoch wird erst 1949 die grundsätzliche Regelung eingeführt, dass Internierte in neutralen Staaten nach der Genfer Konvention die gleichen Rechte haben wie Kriegsgefangene.

Zu diesem Zeitpunkt ist James Misuraca längst wieder in den Vereinigten Staaten. Er bleibt weitere 22 Jahre bei der Air Force, wo er es bis zum Oberstleutnant bringt. Dann macht er sich als Finanzmakler selbständig.

In die Schweiz ist er nie zurückgekehrt. «Als ich das Land verliess, hatte ich die Alpen gründlich satt», gesteht er. Heute würde er gern Davos wiedersehen. Doch anders als für seine Anerkennung als Kriegsgefangener könnte es dafür zu spät sein.

So berichtete CBS über die späte Ehrung der internierten Flieger:

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