Räumung in Calais«So wird der ‹Dschungel› noch schlimmer»
Die Polizei räumt ein berüchtigtes Flüchtlingscamp in Frankreich aus Sicherheitsgründen. Im Camp vermutet man dahinter aber andere Absichten.
Er gilt als eines der härtesten Flüchtlingslager der Welt und liegt mitten in Europa: Im «Dschungel» von Calais warten tausende Flüchtlinge darauf, illegal von Frankreich nach Grossbritannien überzusetzen. Nach langen Ankündigungen haben die französischen Behörden jetzt damit angefangen, einen Teil des Lagers zu räumen – gegen den Willen seiner Bewohner. 20 Minuten sprach mit dem Journalisten Diego Cupolo, der vor Ort ist.
Herr Cupolo, wie sieht es im Moment in Calais aus?
Ich stehe auf einem Parkplatz, der voll mit Polizisten in Kampfmontur ist. Zudem sind zwei Bulldozer und eine Grabmaschine vor Ort. Im Moment räumen die Arbeiter aber erst entlang der Strasse. Im Camp werden sie wohl erst morgen anfangen.
Was bezwecken die Behörden mit der Teilräumung des «Dschungels»?
Hierzu gibt es zwei Erklärungen: Die Polizei sagt, sie räume das Gebiet entlang der Strasse zum Hafen von Calais aus Sicherheitsgründen. Im Lager befürchtet man aber, dass der «Dschungel» absichtlich langsam abgerissen werden soll, weil so viele Medien vor Ort sind und Frankreich nicht schlecht dastehen will.
Welche Auswirkungen wird das auf das Lager haben?
Hier rechnen viele damit, dass der «Dschungel» dichter besiedelt wird, wenn die Behörden einen Teil davon abreissen. Die Flüchtlinge werden nicht verschwinden, sondern einfach in einen anderen Teil des Lagers umziehen. Schon jetzt gibt es Probleme mit den sanitären Anlagen und brennenden Zelten. So wird der «Dschungel» nur noch schlimmer.
Wo sollen die Flüchtlinge hin, deren Zelte jetzt abgerissen werden?
Es gibt eine neue Container-Siedlung von der Regierung. Dort wollen die Flüchtlinge aber nicht leben. Sie wissen, dass sie sich registrieren lassen müssen, wenn sie einziehen. Wenn das einmal geschehen ist, müssen sie in Frankreich Asyl beantragen. Nach den schlechten Erfahrungen, die die Flüchtlinge in Calais gemacht haben, wollen sie möglichst wenig mit Frankreich zu tun haben.
Schlechte Erfahrungen?
Der «Dschungel» ist kein guter Ort. Es ist sehr kalt und verdreckt. Die Flüchtlinge geraten zudem ständig mit Polizisten in Konflikt. Viele hier sind frustriert, weil sie nichts zu tun haben. Dann kommt es manchmal vor, dass sie Steine auf die Polizei werfen. Die Beamten schiessen mit Tränengas zurück. Ich habe schon etwa 20 Flüchtlingslager besucht. Diejenigen von Calais und dem nahegelegenen Dünkirchen sind die schlimmsten, die ich bisher gesehen habe.
Rechnen Sie damit, dass die Flüchtlinge Widerstand leisten?
Eher nicht. In den letzten Tagen sind die meisten Flüchtlinge in einen Teil des Lagers umgezogen, der weniger vom Abriss bedroht ist.
Der «Dschungel» wirkt wie ein schrecklicher Ort. Trotzdem gibt es Flüchtlinge, die dort leben wollen. Wieso das?
Die Flüchtlinge wollen nichts mit der Regierung zu tun haben. Hier im «Dschungel» haben sie eine Art Parallelgesellschaft mit eigenen Läden und Restaurants aufgebaut. Auch wenn der «Dschungel» ein schlimmer Ort ist, fühlen sich die Flüchtlinge hier wohler als ausserhalb des Camps. Sie vertrauen Menschen aus ihrer Gemeinschaft schlicht mehr als der französischen Regierung.
Woher kommt dieses Misstrauen?
Viele der Flüchtlinge wurden durchgehend angelogen, seit sie in Europa sind – von Schleppern, Taxifahrern oder sogar Polizisten. Ich habe einigen gesagt, dass es für sie in Grossbritannien gar nicht unbedingt besser ist als in Frankreich. Sie haben aber auch mir nicht geglaubt.

Diego Cupolo ist freier Journalist aus den USA und lebt in Istanbul. Seit 2013 hat er über 20 Flüchtlingslager von der türkisch/syrischen Grenze bis nach Calais besucht.