«Ich sah 13-Jährige mit Sprengstoffgürteln»

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Ex-IS-Mitglied«Ich sah 13-Jährige mit Sprengstoffgürteln»

Das ehemalige IS-Mitglied Harry S. ist nach Deutschland geflohen. Im Gefängnis berichtet er von seinen Erlebnissen im Jihad.

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«Unmenschlich» und «unislamisch»: Harry S. trägt in einem Propaganda-Video eine IS-Flagge.

«Unmenschlich» und «unislamisch»: Harry S. trägt in einem Propaganda-Video eine IS-Flagge.

Kein Anbieter/Screenshot IS-Video

Harry S. hat der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) den Rücken zugekehrt. Wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sitzt der 27-Jährige nun in einem Gefängnis in Bremen. Dem britischen «Independent» schildert er seine Erlebnisse von seiner Zeit im vom IS ausgerufenen Kalifat.

«Ich war Zeuge von Steinigungen, Enthauptungen, Erschiessungen, abgehackten Händen und vielen anderen Dingen.» Er habe 13-jährige Buben mit Sprengstoffgürteln und Kalaschnikows gesehen. Diese Kinder seien Auto gefahren und sogar an Hinrichtungen beteiligt gewesen.

Im Gefängnis radikalisiert

Seine schlimmste Erinnerung? Die Hinrichtung von sechs Männern – ihnen wurde mit einer Kalaschnikow in den Kopf geschossen. Und: «Einem Mann wurde die Hand abgeschlagen. Ihm wurde befohlen, diese mit der anderen Hand zu halten.» Seine Erkenntnis: «Der Islamische Staat ist nicht nur unislamisch, er ist unmenschlich. Ein Bruder tötet seinen Bruder (...) Freunde töten Freunde.»

S. wurde in Deutschland geboren, wuchs aber in Grossbritannien auf. Nach der Schule arbeitete er als Briefträger. Radikalisiert wurde er, während er seine Haftstrafe für einen Raub absass: Im April 2015 schloss er sich dem IS an – angelockt vom Glauben an eine «jihadistische Fantasiewelt». In Syrien durchlief er eine Kampfausbildung. Später war er als Fahnenträger in einem deutschsprachigen Propaganda-Video zu sehen. Darin wurden die Zuschauer aufgefordert, sich dem Jihad anzuschliessen und in Deutschland «Ungläubige» zu töten, berichtete die Nachrichtenagentur AFP.

«Auf dem Irrweg»

Woher kommt nun sein Sinneswandel? sein Anwalt Udo Würtz sagte zum «Spiegel», Harry S. habe erkannt, dass er sich auf einem Irrweg befand. Als S. in einem Spital behandelt worden sei, habe er die Flucht ergriffen. Er habe nichts zu verlieren gehabt, sagt S.: «Ich wusste, ich würde sowieso sterben.» Er floh in die Türkei, nahm ein Flugzeug nach Bremen. Dort klickten die Handschellen.

Jetzt warnt er Jugendliche davor, auf die IS-Propaganda hereinzufallen. Auch Frauen sollen sich von einem romantischen Irrglauben nicht blenden lassen: «Keine Freiheiten, eingeschlossen in einem Haus. Dein Kind wird geboren, um für nichts zu sterben.»

Ein bekanntes Muster

Terrorexperte Charlie Winter überrascht die Geschichte von Harry S. nicht. «Es ist klar, dass S. möglicherweise eine schwierige Zeit hatte. Eine aufgewühlte Person, Kleinkriminalität, ein charismatischer Rekrutierer – das ist ein sich ständig wiederholendes Muster.»

Die Schuld den Sicherheitsdiensten zuzuschieben, sei eine gängige Ausrede von Extremisten. So sagt auch S., der sich nach seinem Raub von den Behörden eingeschränkt fühlte: «Ich wollte ein neues Leben beginnen. Die Polizei und die Behörden haben das zerstört.» Das Verhalten der Polizei allein würde nicht dazu führen, dass sich jemand für die IS-Ideologie begeistern könne, sagt der Terror-Analytiker der Georgia State University zum «Independent».

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