Kundus6000 Dollar für die Hinterbliebenen
Rund fünf Monate nach dem tödlichen US-Luftangriff auf die Klinik von Ärzte ohne Grenzen in Kundus gibt es Streit um die Entschädigung. Die Hilfsorganisation kritisiert die USA.
Das US-Militär zahlt Hunderttausende Dollar an die Opfer des Luftangriffs auf das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen im afghanischen Kundus. Doch die Hilfsorganisation kritisiert die Entschädigung: Das «Entschuldigungsgeld» könne den Verlust von Menschenleben nicht aufwiegen.
Bei dem Luftschlag eines Kampfflugzeugs vom Typ AC-130 wurden am 3. Oktober 42 afghanische Staatsbürger getötet. Es wird erwartet, dass die USA neben den Entschädigungen für Hinterbliebene und Verletzte auch Zahlungen an alle 460 Beschäftigten leisten werden, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs in der Klinik aufhielten.
Unterstützung im Kampf gegen Taliban
Die US-Streitkräfte in Afghanistan hätten «ihr Beileid ausgedrückt und mehr als 140 Familien und Einzelpersonen eine Kondolenz-Zahlung angeboten», sagt Sprecher Oberst Mike Lawhorn. Nähere Einzelheiten wollte er nicht nennen. Gemäss Informationen der Nachrichtenagentur AP gabs für die Hinterbliebenen der Toten 6000 Dollar, für die Verletzten nur halb so viel.
Die Traumaklinik wurde während eines Feuergefechts angegriffen. Zu dieser Zeit unterstützten die USA die afghanischen Streitkräfte bei der Rückeroberung der Stadt von den Taliban, die Kundus am 28. September eingenommen und für drei Tage besetzt gehalten hatten.
Entschuldigung von Barack Obama
Bei den Todesopfern handelte es sich um 14 Krankenhausangestellte, 24 Patienten und 14 Besucher. Weitere 27 Beschäftigte wurden verletzt. Die Klinik wurde zerstört, und Ärzte ohne Grenzen (MSF) zog sich aus der Stadt zurück.
US-Präsident Barack Obama entschuldigte sich für den Angriff, einen der schwersten auf Zivilpersonen im 15 Jahre dauernden Krieg. Der amerikanische Befehlshaber in Afghanistan, General John Campbell, bezeichnete den Beschuss als Fehler.
Laut einer gemeinsamen Untersuchung der USA und der Nato, die der Nachrichtenagentur AP vorliegt, feuerte die AC-130 innerhalb einer halben Stunde 211 Geschosse auf das Gelände ab, bevor die Kommandeure den Fehler bemerkten und das Feuer einstellten. Es habe keine Hinweise auf eine Belagerung der Klinik durch die Taliban oder auf Kämpfe dort gegeben, hiess es im Widerspruch zu früheren Erklärungen afghanischer Regierungsvertreter.
«Wir tappen immer noch völlig im Dunkeln»
Aus einer gleichzeitigen Untersuchung der US-Streitkräfte ging ein 3000-seitiger Bericht hervor, der laut Ankündigung noch redigiert und dann veröffentlicht werden soll. Ein Datum dafür wurde noch nicht genannt.
Ärzte ohne Grenzen wurde nicht über die Ergebnisse der Berichte informiert, wie der Afghanistan-Koordinator der Organisation, Guilhem Molinie, sagt: «Wir tappen immer noch völlig im Dunkeln, was die Geschehnisse in dieser Nacht in Kundus angeht.» MSF habe mit dem US-Militär über das «Entschuldigungsgeld» gesprochen, dessen Höhe lächerlich sei. Viele der Familien hätten ihren einzigen Brotverdiener verloren, und ihr Geld sei bald aufgebraucht. «Die Summen sind absolut keine Entschädigung für den Verlust von Menschenleben», sagt Molinie.
Die USA betrachten die «Kondolenz-Zahlungen» eher als Ausgleich für Grundkosten etwa für Beerdigungen und nicht als Wiedergutmachung («blood money») für die Angehörigen von Todesopfern oder für Verletzte der Angriffe. Als «blood money» hat die Regierung in Washington in anderen Fällen bis zu 50'000 Dollar pro Todesopfer gezahlt, so etwa bei der Tötung mehrerer afghanischer Zivilisten durch einen US-Soldaten im Jahr 2013. Über die jeweilige Höhe der Zahlung wird von Fall zu Fall entschieden.
Auf afghanischer Seite entschädigte die Regierung des früheren Präsidenten Hamid Karzai die Familien jedes Todesopfers in dem Konflikt mit 100'000 Afghani. Das Büro von Karsais Nachfolger Aschraf Ghani wollte sich nicht zur aktuellen Praxis äussern. Die Provinzregierung von Kundus entschädigte nach Angaben von Gouverneurssprecher Abdul Wase Basil 400 Familien für die Gewalt in Zusammenhang mit der etwa dreiwöchigen Belagerung von Kundus. Die Verletzten erhielten demnach je 20 000 Afghani und die Hinterbliebenen je 50'000 Afghani.
Opfer: Amerikaner sollen zahlen
Zu den Opfern des Klinikangriffs gehört Sabiullah Chan. Der 25-jährige Pfleger verlor beide Hände und ein Auge. Er war der einzige Ernährer einer neunköpfigen Familie. «Ich will wissen, warum die amerikanische Regierung uns bombardiert hat, was wir falsch gemacht haben», sagt er. «Jetzt haben wir gar kein Einkommen mehr. Ich will, dass die Amerikaner mir eine bessere medizinische Behandlung im Ausland bezahlen.»
Anajatullah Hamdard verlor bei der Attacke seinen Vater, der Arzt war. Der Sohn vertritt jetzt die Familie in Verhandlungen mit dem US-Militär und hofft auf juristische Hilfe im Kampf um eine höhere Entschädigung. «Wir brauchen jemanden, der sich mit Kriegsverbrechen auskennt und der uns hilft», sagt Hamdard, der als Professor für Agrarwissenschaften an der Universität von Kundus lehrt. Die rechtlichen Möglichkeiten sind aber eingeschränkt, da bilaterale Verträge den USA das alleinige Recht zur strafrechtlichen Verfolgung ihrer Soldaten in Afghanistan sichern.
Erneuter Angriff auf MSF
MSF-Koordinator Molinie befürchtet, dass die unklare Haftung nach dem Zwischenfall in Kundus weltweit zu einer Kultur der Straffreiheit beitragen könnte. Wie andere Hilfsorganisationen in Kriegsgebieten verfolgt Ärzte ohne Grenze eine Politik der strikten Neutralität: Alle Patienten werden behandelt, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu den Kriegsparteien. In den vergangenen Wochen waren Einrichtungen der Organisation jedoch erneut Ziel von Angriffen, diesmal in Syrien und im Jemen.
In Kundus hatten die US-Streitkräfte angeboten, das zerstörte Krankenhaus wieder aufzubauen. Doch Molinie sagt, stattdessen habe es Priorität «sicherzustellen, dass die unglaubliche Verkettung von Irrtümern, Fehlern und technischem Versagen, wie sie sich in Kundus zugetragen haben soll, nicht noch einmal passieren wird und kann». «Viel wichtiger als der Wiederaufbau des Krankenhauses ist für uns die grundsätzliche Gewährleistung, dass wir ein Krankenhaus an der Front betreiben können.»