Erdbeben in ItalienBehörden nehmen Pfusch-Bauten ins Visier
Erneut haben heftige Erdbeben Norditalien erschüttert. Mindestens 17 Personen kamen ums Leben, 350 wurden verletzt. Die Staatsanwaltschaft sieht Bau-Pfusch für einen Grund für die vielen Schäden.
Nach den schweren Zerstörungen durch die Beben in der norditalienischen Region Emilia- Romagna haben die Behörden Konsequenzen angekündigt. Die Staatsanwaltschaft von Modena nahm Ermittlungen auf, warum bei den Beben am Dienstag und am 20. Mai so viele Werkshallen einstürzten.
«Die nationale Industriepolitik ist, was die Bauten angeht, selbstmörderisch», sagte der leitende Staatsanwalt von Modena, Vito Zincani. Präsident Giorgio Napoletano übte Kritik an den Politikern: «Die Politik zur Vorbeugung von Erdbebenschäden war in hohem Masse unzureichend.»
Ingenieure hatten die Gebäude gerade wieder freigegeben, wie Rai News berichtete. Das Fernsehen zeigte Trümmerhaufen von Fabriken, die wie Kartenhäuser zusammengefallen waren.
Auch Geologen kritisierten mangelnde Vorsorge. Fast drei Millionen Menschen leben in Gebieten mit einem «hohen Erdbebenrisiko», während 21 Millionen Bürger in Gebieten mit einem «erhöhten Risiko» wohnen. In Italien gebe es aber kaum Prävention. 725 Gemeinden seien von Erdbeben sehr bedroht, eine erhöhte Gefahr bestehe in 2344 Gemeinden.
Letzte Opfer geborgen
Neben zahlreichen Kirchen und anderen historischen Bauten in der Region trafen die beiden Beben vor allem Fabrikgebäude: Allein in Medolla starben vier Arbeiter in den Trümmern einer Fabrik des Medizingeräteherstellers Haemotronic - Feuerwehrleute bargen am Mittwoch den letzten von ihnen.
Die Zahl der Opfer des jüngsten Bebens stieg somit auf 17 Tote und 350 Verletzte. Am Dienstagabend konnte dagegen eine Frau lebend aus den Trümmern ihres Wohnhauses im Ort Cavezzo gerettet werden. Bei den Überlebenden liegen die Nerven blank. 6000 Einwohner leben seit dem 20. Mai bei Freunden oder in Notunterkünften; seit Dienstag sind es weitere 8000.
«Ich fühle mich wie auf einem fliegenden Teppich, das ist ein Albtraum», sagte Francesco Graziano, der seine Wohnung in San Felice sul Panaro verlor. Die ersten Nächte verbrachte der 32-Jährige in seinem Auto, später stellte er nur wenige Schritte von seiner Wohnung entfernt ein Zelt auf.
Immense Schäden
Die durch die Erdbeben verursachten Schäden sind immens - auch für die Wirtschaft: Emilia Romagna gehört zu den prosperierendsten Regionen Italiens, neben der Biomedizin-Industrie ist sie Heimat des berühmten Balsamico-Essigs und des Parmesan-Käses. Allein die Schäden der Agrar-Industrie belaufen sich nach Angaben ihres Interessenverbands Coldiretti auf eine halbe Milliarde Euro.
Italiens Ministerrat verabschiedete am Mittwoch in Rom ein Paket mit Hilfsmassnahmen für die betroffenen Gebiete. Zur Finanzierung des Plans wurde eine Erhöhung der Benzinsteuer von zwei Cent pro Liter beschlossen.
Die Regierung von Ministerpräsident Mario Monti beschloss ausserdem, dass die vom Erdbeben betroffenen Gemeinden sich nicht an den internen Stabilitätspakt halten müssen, der die Lokalverwaltungen zu strengen Einsparungen zwingt.
Monti sagte für Donnerstag einen Besuch in Brüssel ab, um sich in der Erdbebenregion ein Bild der Lage zu machen. Der kommende Montag wird in Italien ein Trauertag sein.
Nachbeben erwartet
Seismologen rechnen mit einer langen Nachbebenserie im norditalienischen Raum. Die Erdstösse könnten sogar monatelang andauern. «Es wird bestimmt noch zu weiteren Erdstössen kommen. Nach einem Erdbeben im Jahr 1570, das die Stadt Ferrara erschütterte, dauerten die Nachbeben vier Jahre lang», sagte Gianluca Valensise, Mitglied des nationalen Instituts für Geologie und Vulkanologie.
In der Nacht auf Mittwoch wurden über 60 Nachbeben gemeldet. Das stärkste mit einer Intensität von 3,8 auf der Richterskala hatte sein Epizentrum in der Provinz Modena und wurde um 8.00 Uhr gemeldet, berichteten die Experten.
Hier ein Amateur-Video aus Finale, das kurz nach dem Erdbeben aufgenommen wurde:
(Quelle: Youtube/FussballEMShop)
Ganz zu Beginn des Videos von «Sky TG 24» sieht man, wie die Erde bebt und die Bewohner dieses Zeltlagers aufschreckt:
(Quelle: Youtube)
In dieser Region hat sich das Erdbeben ereignet:
(sda)

Florian Haslinger, in Norditalien häufen sich seit dem 20. Mai die Erdbeben. Warum? Florian Haslinger*: Bei den Beben handelt es sich um eine Erdbebensequenz. Es wird also in dieser Region in den nächsten Tagen und Wochen weitere Beben geben, die Magnituden von über 5 erreichen können.
Florian Haslinger, in Norditalien häufen sich seit dem 20. Mai die Erdbeben. Warum? Florian Haslinger*: Bei den Beben handelt es sich um eine Erdbebensequenz. Es wird also in dieser Region in den nächsten Tagen und Wochen weitere Beben geben, die Magnituden von über 5 erreichen können.
Ist Italien also kein sicheres Reisegebiet mehr?
Das Erdbebenrisiko ist in Italien generell höher. Die Erdbebensequenz der letzten Wochen ist aber kein Grund, nicht hinzufahren. Nur die direkte Umgebung des betroffenen Gebiets würde ich meiden.
Das Epizentrum ist nur 200 km entfernt. Müssen wir auch in der Schweiz Angst haben?
Grundsätzlich müssen wir auch in der Schweiz immer mit starken Erdbeben um Stärke 6 rechnen. Zumindest die Staumauern wären hier auf solche Ereignisse ausgelegt. Die Ereignisse in Norditalien spielen sich aber im dicken Sedimentgestein der Poebene zwischen Alpen und Apennin ab. Das Tessin dagegen gehört seismologisch schon zum Alpenraum und befindet sich somit in einer anderen tektonischen Region. MF
*Dr. Florian Haslinger ist Stellvertretender Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED).