Eine päpstliche AffäreDer Vatikan, der Gangster und das Mädchen
Ein mysteriöser Fall wühlt Italien auf: Die seit 29 Jahren vermisste Papstdiener-Tochter Emanuela Orlandi liegt angeblich in einer römischen Basilika – im Grab eines Mafioso.
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Ein Mann betrachtet ein Suchplakat für Emanuela Orlandi, das am 22. Juni 2008 in Rom aufgehängt wurde - genau 25 Jahre nach ihrem Verschwinden.
Emanuela Orlandi war nicht irgendein Mädchen – ihr Vater war Hofdiener von Papst Johannes Paul II. Am 22. Juni 1983 verschwand die damals 15-Jährige auf dem Heimweg vom Musikunterricht in Rom. Seither fehlt von ihr jede Spur, dafür blühen die Verschwörungstheorien.
Eine davon beinhaltet einen ebenso bizarren wie furchtbaren Verdacht: Emanuela Orlandi soll im gleichen Grab liegen wie der 1990 erschossene Gangsterboss Enrico De Pedis. Dieses befindet sich nicht auf irgendeinem Friedhof, sondern in der ehrwürdigen Basilika Sant'Appollinare neben der Piazza Navona. Dort dürften eigentlich nur hohe kirchliche Würdenträger beigesetzt werden. Wie kommt eine Unterweltfigur zu dieser Ehre?
Enrico De Pedis war Chef der berüchtigten Magliana-Bande, die in den 1980er-Jahren in Rom im Drogen- und Waffenhandel tätig war. 1990 geriet er beim Campo dei Fiori in einen Hinterhalt und wurde getötet. Seine Beisetzung in der Basilika Sant'Appollinare wurde erst sieben Jahre später von einem Journalisten enthüllt. De Pedis – Spitzname Renatino – liegt offenbar in der Krypta in einem Marmorgrab, ähnlich jenem der Päpste. Der damalige Pfarrer verteidigte sich mit dem Argument, der Gangsterboss sei «ein grosser Wohltäter» gewesen, der ihn beim Betrieb von Suppenküchen für die Armen unterstützt habe.
Entführt auf Befehl des Erzbischofs?
Zu rührend, um wahr zu sein? Tatsächlich stellte sich heraus, dass die Beisetzung von Kardinal Ugo Poletti, dem damaligen Vorsitzenden der italienischen Bischofskonferenz, genehmigt worden war – «in einem offensichtlichen Verstoss gegen das kanonische Recht», wie der «Guardian» schreibt. Der Grund soll in einem der grössten Skandale in der jüngeren Geschichte des Kirchenstaats zu suchen sein: Dem Zusammenbruch des Banco Ambrosiano im Jahr 1982. Die Mailänder Privatbank hatte nicht nur mit der Mafia und südamerikanischen Drogenbanden Geschäfte gemacht, sondern auch mit der Vatikanbank.
Diese wurde vom amerikanischen Erzbischof Paul Marcinkus geleitet, einer umstrittenen Figur, die tief in die schmutzigen Geschäfte des Banco Ambrosiano verwickelt war. Der Heilige Stuhl zahlte dessen Gläubigern schliesslich «freiwillig» 224 Millionen Dollar Schadenersatz. Und hier kommt die verschwundene Emanuela Orlandi ins Spiel, denn eine ehemalige Geliebte von Enrico De Pedis hatte 2006 behauptet, das Mädchen sei von der Magliana-Bande entführt und ermordet worden, und zwar auf Geheiss von Erzbischof Marcinkus.
Der Vatikan wies diese Anschuldigungen als «infam und unbegründet» zurück. Doch letztes Jahr präsentierte das ehemalige Bandenmitglied Antonio Mancini eine weitere Variante: Emanuela sei gekidnappt worden, um die Vatikanbank zu erpressen. De Pedis habe dort einige Millionen deponiert und befürchtet, das Geld nach dem Ambrosiano-Crash nicht mehr wiederzusehen. Schliesslich habe der Boss entschieden, das Geld abzuschreiben, sagte Mancini. Als Gegenleistung sei ihm das Begräbnis in seiner Lieblingskirche zugesichert worden.
Anonymer Anrufer gab den Tipp
Wurde Emanuela Orlandi als Folge dieses «Deals» beseitigt? Die Story bleibt abenteuerlich. Und selbst wenn, so stellt sich die Frage, wie und warum sie ausgerechnet ins Grab des Mafiosos gekommen sein soll. Die These geht zurück auf einen anonymen Anruf im Jahr 2005 bei der Redaktion der Fernsehsendung «Chi l'ha Visto» (eine Art italienisches «Aktenzeichen XY»), wonach Kardinal Poletti für die Entführung verantwortlich war und «des Rätsels Lösung sich in einem Grab in Sant'Apollinare befindet».
«Hinweise» dieser Art gab es seit 1983 immer wieder, die meisten erwiesen sich als wertlos. Dennoch wurden Rufe laut, den Fall wieder aufzurollen. Römische Staatsanwälte behaupten, der Vatikan verweigere die Zusammenarbeit bei den Ermittlungen mit der Begründung, die Basilika sei «exterritorialer Besitz» des Kirchenstaats – was jedoch nicht zutrifft. Unter dem wachsenden Druck – kürzlich kam es zu einer Mahnwache vor der Kirche – sah sich der Vatikan zu einer Stellungnahme gezwungen: Der Heilige Stuhl habe den Behörden «alle seine Erkenntnisse zugänglich gemacht», betonte Sprecher Federico Lombardi.
Grab soll geöffnet werden
Eine Öffnung des Grabes soll nun Klarheit schaffen. Die Kirche habe «nichts gegen eine Untersuchung des Sarkophags», sagte Lombardi. Pietro Orlandi, der Bruder der Verschwundenen, hofft, der Aufklärung des Falles einen Schritt näher zu kommen. Er sei zwar «nicht gänzlich überzeugt», im Grab Hinweise zu seiner Schwester zu finden, räumte er ein. Aber man dürfte nichts unversucht lassen.
Während langer Zeit war das Verschwinden von Emanuela Orlandi auch in Zusammenhang mit dem Attentat auf Papst Johannes Paul II. zwei Jahre zuvor gebracht worden. Bei der Familie und im Vatikan gingen damals mehrere anonyme Anrufe ein, die im Austausch für das Mädchen die Freilassung des türkischen Papst-Attentäters Mehmet Ali Agca forderten. Eine konkrete Spur ergab sich jedoch nie. Immer wieder gab es auch Behauptungen, Emanuela sei gesehen worden, sogar innerhalb des Vatikans. Der Fall bleibt ungelöst.