Droht uns der IS mit Atomterror?

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Beunruhigendes VideoDroht uns der IS mit Atomterror?

Beunruhigung in Belgien – und ganz Europa: Bei einem wegen der Pariser-Attacken festgenommenen Terroristen hat die Polizei ein Video gefunden, das weitreichende Implikationen hat.

von
Ann Guenter

Eine Kamera, in einem Gebüsch versteckt, filmte das Haus eines Direktors des belgischen Nuklearprogrammes während einiger Tage. Die belgische Staatsanwaltschaft bestätigte, dass sie die Aufnahmen seit dem 30. November besitzt.

Aus Ermittlerkreisen heisst es, der mutmassliche Terrorist Mohammed Bakkali, einer von insgesamt acht im Zusammenhang mit den Pariser Anschlägen verhafteten mutmasslichen Terroristen, habe wohl vorgehabt, den Mann zu entführen, sich durch ihn Zugang zum Atomforschungszentrum Mol zu verschaffen und ihn zur Herausgabe von radioaktivem Material zu zwingen.

Terrorplanung in «einem unserer vier nuklearen Standorte»

Ein Sprecher der belgischen Atombehörde bestätigte, dass in Mol Material lagere, das sich zur Verwendung einer «Dirty Bomb» eignen würde. Als «schmutzige Bombe» bezeichnet man eine Menge an nuklearem Material, das durch konventionellen Sprengstoff über ein bestimmtes Gebiet verstreut wird.

Mit dem Video haben «die Behörden konkrete Hinweise darauf, dass die in Paris involvierten Terroristen etwas planten, das einen unserer vier nuklearen Standorte involvierte», so der Sprecher weiter. Sollten Terroristen einen Weg finden, wie sie radioaktives Material grossflächig verbreiten könnten, würde das «grossen Schaden» anrichten. Dabei meint der Sprecher weniger die physischen Schäden, die eine detonierende «Dirty Bomb» verursachen könnte – die nukleare Gefahr wäre verheerender als die Sprengkraft. Eine solche Bombe würde allerdings Panik und Angst in der Bevölkerung verbreiten. Dazu wären die Kosten der Dekontaminierung einer grossen Fläche, etwa eines Stadtzentrums, immens.

November 2015: Gestohlenes Iridium-192

Für die Herstellung einer schmutzigen Bombe braucht es etwa das hochradioaktive Isotop Iridium-192 – und eben solches wurde jetzt im Irak gestohlen. Das bestätigen die dortige Regierung sowie die Internationale Atomenergiebehörde IAEA. Dazu kam es am 3. November in der Nähe von Basra, im Süden Iraks. Das Iridium-192 war aus einem Bunker entwendet worden. Dabei handelt es sich um radioaktive Kapseln, die in einem Behälter von der Grösse eines Laptops aufbewahrt wurden.

Auf dem Areal ist auch die Schweizer SGS tätig, eine Warenprüfungsgesellschaft mit Sitz in Genf. Diese bestätigt auf Anfrage, dass radioaktives Material gestohlen wurde. Für die Sicherung des Areals sei sie indes nicht verantwortlich. Tatsächlich sind auf dem Areal mehrere irakische Sicherheitsfirmen zuständig. Dass es keine Einbruchsspuren gibt, weist auf Insider hin – und lässt Experten vermuten, dass das Material in die Hände des IS gefallen sein könnte.

Juli 2014: 40 Kilogramm einer Uranverbindung

Im Gegensatz zur al-Qaida hat der IS nicht nur ausländische Kämpfer aus aller Welt um sich geschart, er kann auch auf Spezialisten zurückgreifen, die sich bei der Herstellung und im Umgang mit chemischen, biologischen und nuklearen Waffen auskennen: Chemiker, Physiker, Techniker – wobei nicht wenige von ihnen unter Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen-Programm tätig waren. Das Wissen ist da, und dem IS gelingt es, sich Zugriff zu den nötigen Substanzen für tödliche Giftwaffen zu beschaffen.

Bereits im Juli 2014 informierte die IAEA, dass eine mit dem IS verbundene Gruppierung 40 Kilogramm einer Uranverbindung aus der Universität von Mossul im Norden des Irak entwendet habe. Die IAEA stufte das Material als «spaltbares Material niedriger Qualität» («low grade nuclear material») ein. Im selben Jahr überrannte der IS das al-Muthanna-Gelände, auf dem das irakische Chemiewaffen-Programm in den 80er-Jahren seinen Anfang genommen hatte. Hier bunkerte der Irak 2000 mit Senfgas kontaminierte Artilleriegranaten sowie weitere Container mit Nervengasen. Der irakischen Armee gelang es zwar wenige Monate später, das Areal zurückzuerobern – ohne dass sich feststellen liess, ob und in welchem Umfang Material entwendet wurde.

«Es ist nur eine Frage der Zeit»

Ein Trost, wenn auch ein schwacher: Experten gehen davon aus, dass das Material aufgrund seines Alters nur noch begrenzt giftig ist. Wenn überhaupt, dann könnte es zur Panikmache und weniger für schwere Chemiewaffen-Attacken eingesetzt werden.

Wie akut ist also die Gefahr von Atomterrorismus? Die Antwort des ehemaligen Direktors der IAEA, Mohammed al-Baradei: «Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch terroristische Gruppen Zugang zu nuklearen Waffen erlangen.» Dass es bisher noch zu keiner Katastrophe mit solchen Waffen gekommen sei, «verdanken wir genauso purem Glück wie den gezielten Bemühungen, dies zu verhindern».

Frankreich: Atropin als Gegengift

Der IS versucht nicht nur an nukleares Material zu gelangen, er setzt auch auf die Produktion von Chemiewaffen. Eine irakische Untersuchungskommission bestätigte, dass der IS «sehr ernsthaft daran arbeitet, chemische Kampfstoffe» wie Senfgas, Sarin, VX oder Chlorgas produzieren zu können. Aus Beständen des Assad-Regimes und des Hussein-Regimes setzte die Terrormiliz derlei chemischen Waffen nachweislich bereits in Syrien und im Irak ein – wobei etwa Senfgas in Granaten über Jahre giftig bleibt. Entsprechend bereitet sich auch Europa vor. In Frankreich sagte Innenminister Manuel Valls nach den Pariser Anschlägen: Die Möglichkeit einer terroristischen Attacke mit chemischen Waffen durch den IS sei eine «realistische Einschätzung». Seit dem im November verhängten und bis heute andauernden Ausnahmezustand gibt die Regierung laut «Guardian» Atropin heraus, das als Gegengift bei Vergiftungen mit Nervenkampfstoffen eingesetzt wird. Dazu wurde die Sicherheit rund um die Wasserversorgung von Paris erhöht. Auch Grossbritannien erwägt derlei Schritte.

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