Ein Tsunami fegt durch Italiens Politik

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Beppe GrilloEin Tsunami fegt durch Italiens Politik

Er wütet gegen die etablierten Parteien und trifft damit den Nerv vieler Menschen: Der Politclown und Internetaktivist Beppe Grillo ist der grosse Sieger der Parlamentswahl in Italien.

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Italien, wie es funktioniert, in drei Sätzen: «Selbstverständlich schneidet der Coiffeur den Quartierpolizisten die Haare gratis. So, wie ihnen der Metzger gegenüber das Filet für den Preis einer Wurst verkauft. Dafür parkieren beide straffrei vor ihren Läden.» Abgedruckt vor sieben Jahren in einem Artikel der «Weltwoche», der zeitlos ist. Die Konklusion der Autoren damals: Die Leute wählen immer wieder Berlusconi, weil er einer wie sie, aber der grösste Gauner von allen ist, ein bewundernswerter Mann.

Nun hat Silvio Berlusconi tatsächlich ein nicht mehr für möglich gehaltenes Comeback erlebt. Doch an die Macht kehrt er kaum zurück. Denn der wahre Sieger der Parlamentswahl ist ein anderer: Giuseppe Grillo, genannt Beppe. Der 64-jährige Komiker aus Genua hat mit seiner Bewegung Movimento Cinque Stelle rund ein Viertel aller Stimmen geholt. Sie ist damit aus dem Stand zur stärksten Einzelpartei geworden. Das ist ein Wert, der die meisten Beobachter überrascht, auch wenn Grillo im Vorfeld einiges zugetraut worden war.

Viele Fans unter den Jungen

Die Erklärung für die Abweichung von den Umfragen, die Grillo höchstens 20 Prozent gaben, ist einfach: Italiens Wähler werden vorwiegend via Festnetz-Telefon befragt. Die jüngere Generation, die mit Handy und Internet kommuniziert, wird kaum erfasst. Dabei bildet gerade sie einen wesentlichen Teil von Grillos Anhängerschaft. Jene Italiener, die häufig unfreiwillig im «Hotel Mamma» leben, weil sie keinen Job finden – die Jugendarbeitslosigkeit beträgt rund 35 Prozent. Und die genug haben von den eingangs erwähnten Zuständen.

Der Politclown hat dem Establishment gehörig Feuer unter dem Hintern gemacht. Der Schriftsteller und ehemalige Italienkorrespondent Dante Andrea Franzetti, der in Zürich und Rom lebt, hatte im Vorfeld gegenüber 20 Minuten Online beschrieben, weshalb der bärtige Komiker mit dem strubbligen Haar viele Stimmen holen wird. «Grillo verkörpert die Fundamentalopposition gegen das System, er will den Staat neu gründen. Für viele Italiener hat das emotional eine gewisse Plausibilität.»

Die Schweiz als Vorbild

Noch immer ist der Wahlsieger aber politisch kaum fassbar. Bekannt ist, dass die Fünf-Sterne-Bewegung einen Ausstieg Italiens aus der Europäischen Währungsunion und die Rückkehr zur Lira anstrebt. Der Euro, so Grillo, sei wie ein Strick um den Hals. Weiter will die Bewegung für eine «sozial verträglichere» Wirtschaftspolitik kämpfen, setzt sich für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs ein und für einen Baustopp grosser Infrastrukturprojekte.

«Die Leute sind quasi mental bankrott», sagte Beppe Grillo vor zwei Monaten im Gespräch mit «20 Minuten» und stellte der amtierenden Regierung kein gutes Zeugnis aus: «Mario Monti hinterlässt das Land in einem schlechteren Zustand, als es bei seinem Antritt war.» Grillo sieht die Schweiz als Vorbild, er möchte «so viel wie möglich» von ihr kopieren. «Wir wollen dem Volk die Instrumente geben, die es bei euch schon seit hundert Jahren gibt.» Dann sei es nicht mehr wichtig, wer in der Regierung sitze.

«Abgeordnete ohne Vorstrafen»

Einen eigenen Kandidaten dafür stellt seine Bewegung nicht. «Wir haben keinen Leader, wir sind nur das Volk», erklärt Grillo. «Dank uns werden das erste Mal Personen mit einem normalen Lohn und ohne Vorstrafen im Parlament sitzen: Studenten, Hausfrauen, Ärzte, Ingenieure.» Wegen diesen strikten Regeln durfte Beppe Grillo selber nicht als Kandidat für seine Bewegung antreten: 1981 wurde er wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, weil er einen Autounfall verschuldet hatte, bei dem drei Menschen ums Leben kamen.

Seiner Karriere hat das nicht geschadet. Der einstige Fernsehkomiker meidet heute dieses Medium, in dem Silvio Berlusconi im Wahlkampf fast täglich aufgetreten ist. Grillo kommuniziert lieber über seinen Blog, den meistgelesenen in Italien. Und seine öffentlichen Auftritten, bei denen er den Wutbürger markiert und ins Mikrophon brüllt. Als «Tsunami-Tour» hat er seine Kampagne bezeichnet. Nun hat der Tsunami das Parlament erreicht.

Wie es weitergeht, ist unklar. Die etablierten Parteien will Grillo nicht unterstützen. «Diese Wahl ändert die Geschichte des Landes. Ehrlichkeit wird in Italien wieder hoch im Trend sein», liess der Internetaktivist per Twitter verlauten. Vorerst aber droht Italien die Unregierbarkeit und damit Neuwahlen. In diesem Fall sieht SRF-Italienkorrespondent Philipp Zahn schwarz, wie er im Interview erklärte. Beppe Grillo könnte dann auf bis zu 50 Prozent der Stimmen kommen: «Das wäre der politische und wirtschaftliche Super-GAU.»

Grillo verdrängt Polit-Profis

Der riesige Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung, die mit bis zu 170 Gewählten ins Parlament einzieht, wälzt die Machtverhältnisse in Rom um. Die «Grillini», wie sich die Anhänger des Komikers Beppe Grillo nennen, drängen mehrere altgediente Polit-Profis aus dem Parlament. Zu den prominentesten Opfern zählt der scheidende Präsident der Abgeordnetenkammer, Gianfranco Fini. Der langjährige Berlusconi-Vertraute, der sich 2010 im Streit vom Medienzar getrennt hatte, verfehlte mit seiner Zentrumspartei FLI die Wiederwahl.

Aus dem Parlament ausgeschlossen, wurde auch der Ex-Staatsanwalt Antonio Di Pietro. Der Chef der Mitte-links-Partei «Italien der Werte» und Berlusconi-Erzfeind war eine Allianz mit der Linksbewegung «Rivoluzione Civile» um den sizilianischen Staatsanwalt Antonio Ingroia eingegangen, der jedoch eine schwere Niederlage hinnehmen musste. Die Partei schaffte es lediglich auf 2,2 Prozent der Stimmen. Zu den Opfern zählt auch der altgediente Radikalenchef Marco Pannella. Seit 50 Jahren sorgt er für Aufruhr in Italiens turbulenter Polit-Szene. Seine Liste «Justiz, Amnestie und Freiheit» verfehlte den Sprung ins Parlament. (sda)

Grillo gegen Grosse Koalition

Beppe Grillo will eine mögliche Grosse Koalition von Linken und Rechten im Parlament behindern. «Gegen uns geht es nicht mehr», kündigte er nach dem spektakulären Wahlerfolg seiner Bewegung im Internet an. Grillo wandte sich damit dagegen, als Notlösung aus dem Wahl-Patt eine Koalition der Bündnisse Pier Luigi Bersanis und Silvio Berlusconis ins Auge zu fassen. Diese würden vielleicht noch sieben, acht Monate fortfahren können, Unglück anzurichten, meinte er am Dienstag. Berlusconi hatte sich zuvor offen für eine Zusammenarbeit mit dem gegnerischen Mitte-Links-Lager gezeigt. (sda)

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