Streit eskaliertHat Snowden den Kalten Krieg 2.0 losgetreten?
Die USA verlieren wegen Edward Snowdens Flucht von Hongkong nach Moskau die Fassung, Russland und China decken Amerika mit beissendem Spott ein – die Stimmung erinnert an ungute alte Zeiten.

Unter dem Radar aller US-Geheimdienste durchgeschlüpft: Whistleblower Edward Snowden.
«Ist es nicht sehr bemerkenswert, dass die geballte Macht von Amerikas Geheimdiensten es nicht fertigbringt, einen Geek mit einem Laptop zu fangen?» Der britische Reporter und Moderator Piers Morgan twittert es auf den Punkt. Die USA und ihre Geheimdienste haben wegen des geflohenen Bespitzelungsspezialisten Edward Snowden das Gesicht verloren.
Hinter den Kulissen versuchen zur Weissglut getriebene Beamte des Aussen- und Justizministeriums, den Kreml unter Druck zu setzen – der am Sonntag von Hongkong nach Moskau geflüchtete Whistleblower müsse an die USA ausgeliefert werden. Aussenminister John Kerry warnte Russland und China explizit vor «Auswirkungen auf die Beziehungen und Konsequenzen». Beamte des Aussenministeriums schreckten auch vor Erpressung nicht zurück, berichtet «Daily Beast»: Sollte Russland Snowdens Auslieferung nicht nachkommen, könnten auch russische Auslieferungsgesuche an die USA sistiert werden.
Drohungen sind Ausdruck der Verzweiflung
Tatsächlich erinnerte Aussenminister Kerry gestern daran, dass die USA in den letzten zwei Jahren sieben russische Häftlinge nach Russland überführt hätten. Er fügte mit beissender Ironie an: «Ich frage mich, ob Herr Snowden China und Russland zu Fluchthelfern machte, weil beide mächtige Bastionen der Freiheit des Internets sind». Markige und undiplomatische Worte des amerikanischen Chefdiplomaten.
«Solche Drohungen gegenüber China und Russland sind in erster Linie ein Zeichen der Verzweiflung», sagt Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann. Verzweiflung oder Wut – beides kommt nicht gut an. In russischen Medien ist schon von einem neuen Kalten Krieg die Rede.
Aussenminister Sergej Lawrow wehrt sich heute mit scharfen Worten: Russland mit Blick auf Snowden eines «Verstosses gegen US-Gesetze und sogar einer Art Verschwörung» zu beschuldigen, sei «vollkommen unbegründet und inakzeptabel», so Lawrow. Snowden habe die russische Grenze nicht überquert. Überhaupt habe Russland weder mit dem 30-jährigen US-Bürger selbst noch seinem Verhältnis zur US-Justiz und seinen Reiseplänen etwas zu tun. Wo sich Snowden heute aufhält, sagte Lawrow nicht.
«Washingtons Maske der Scheinheiligkeit»
Angesichts der unfreundlichen Töne schreiben russische Medien heute bereits von einem neuen Kalten Krieg - hat der geflohene Computerspezialist wirklich einen Kalten Krieg 2.0 losgetreten? Immerhin ging Russlands Präsident Wladimir Putin wiederholt auf Konfrontationskurs mit westlichen Regierungen. Er versucht auch immer wieder, die USA als übereifrigen Weltpolizisten anzuprangern.
In China wird heute in dasselbe Horn geblasen: «Die Vereinigten Staaten wandelten sich von einem Menschenrechts-Paradebeispiel zu einem Lauscher der Privatsphäre», hiess es in der Parteizeitung «People's Daily». Die USA seien so zu einem «Manipulator des Internets» und zu einem «verrückten Invasor anderer Länder Netzwerke» geworden. «Die Welt wird sich an Edward Snowden erinnern. Es war seine Furchtlosigkeit, die Washingtons Maske der Scheinheiligkeit herunterriss», schreibt die Zeitung.
Kein Kalter Krieg 2.0
Gift und Galle – dennoch kein Kalter Krieg. «Wenn die russischen Medien von einem neuen Kalten Krieg sprechen, dünkt mich das übertrieben», sagt Historiker Philipp Sarasin von der Universität Zürich. «Der Kalte Krieg war ein Krieg der Ideologien. Oder wie Präsident Truman 1947 sagte: die Wahl zwischen ‹Two Ways of Life›.» Im Kalten Krieg hätten sich zwei ideologische Bündnissysteme gegenübergestanden, die sich fundamental widersprachen.
Der Kalte Krieg habe auf allen Ebenen stattgefunden, den Alltag der Menschen durchdrungen und sei vom Wettrüsten mit Atomwaffen getrieben gewesen. «Was wir heute sehen, ist ein Konkurrenzkampf der Grossmächte. Das 19. Jahrhundert war voll solcher Machtkämpfe. Heute wie damals geht es um Machterhalt der Eliten, um Einfluss und um Öl. Es ist kein Kampf der Ideologien mehr, der Lebensstil in Moskau ist grundsätzlich derselbe wie in New York», so Sarasin.
Fischen gehen wäre besser gewesen
Dem schliesst sich Wirtschaftshistoriker Straumann an. Dass russische Medien von einem Kalten Krieg sprechen, sei aber nachvollziehbar. «Zum einen hat Russland seit jeher eine eigene Agenda, die sich mit jenen des Westens nicht deckt. Zum anderen finden sich die USA nicht damit ab, nicht mehr die Führungsmacht zu sein, die sie einmal waren.»
Die Affäre um Snowden beleuchtet laut Straumann die Schwachpunkte der Administration Obama: «Er hat kein enges Verhältnis zu den anderen Staatschefs. George W. Bush oder Bill Clinton wären in dieser Situation mit Wladimir Putin fischen gegangen und hätten einen Kompromiss gefunden. Doch Obama, der keine starke aussenpolitische Agenda hat, hat kein Gewicht und ist kaum bündnisfähig. So musste es zu dieser Eskalation kommen.»