Fact CheckHat die Nato Russland betrogen?
Wladimir Putin und Kritiker des Westens behaupten, die Nato habe mit der Erweiterung nach Osten ein Versprechen gegenüber Russland gebrochen. Stimmt das wirklich?
Wladimir Putin rechtfertigt die Annexion der Krim unter anderem damit, dass er dem Westen Wortbruch vorwirft. Dieser habe Russland beim Zusammenbruch der UdSSR betrogen, als das nordatlantische Verteidigungsbündnis (Nato) eine Reihe osteuropäischer Länder als Mitglieder aufnahm. Putins Behauptung: Westliche Regierungschefs hätten dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow damals zugesichert, keine Erweiterung der Nato nach Osten vorzunehmen.
Auch Gorbatschow selbst erhebt diesen Vorwurf. Vor fünf Jahren sagte der frühere Sowjetpräsident zur «Bild»-Zeitung, Bundeskanzler Helmut Kohl, US-Aussenminister James Baker und andere «sicherten mir zu, dass die Nato sich keinen Zentimeter nach Osten bewegen würde. Daran haben sich die Amerikaner nicht gehalten, und den Deutschen war es gleichgültig.»
Diese Argumentation kommt nicht nur in Russland an. Auch der frühere US-Botschafter Jack Matlock zeigt Verständnis für Putin. In der «Washington Post» schreibt er, die Nato-Erweiterung «schien ein Einvernehmen zu verletzen, wonach die Vereinigten Staaten den sowjetischen Rückzug aus Osteuropa nicht ausnützen wollten.»
Hat die Nato Russland mit ihrer Ausdehnung nach Osten wirklich betrogen? Wir haben mit dem US-Historiker Mark Kramer einen Faktencheck gemacht.
Es ging nur um die DDR
Kramer hat in der Zeitschrift «Washington Quarterly» vom April 2009 die Protokolle der entscheidenden Gesprächsrunden gesichtet. Sein Schluss: Wann immer Gorbatschow, Bush und Kohl bei ihren Treffen zwischen Dezember 1989 und Februar 1990 über die künftige Rolle der Nato im Osten sprachen, meinten sie das Territorium der DDR. Es ging ihnen bloss darum festzuschreiben, dass keine Nato-Soldaten im früheren Ostdeutschland stationiert werden sollten, so lange der Warschauer Pakt weiter bestehe.
Kramers Beweisführung: Weder den westlichen noch den sowjetischen Gesprächsnotizen sei zu entnehmen, dass jemals über einen allfälligen Beitritt anderer osteuropäischer Länder zur Nato gesprochen wurde. «Kein westlicher Führer hat je ein oder oder über die Nato-Rolle gegenüber den übrigen Staaten des Warschauer Pakts abgegeben.»
Genscher will angedeutet haben
Der einzige Hinweis, dass Polen, Ungarn und die anderen Länder im sowjetischen Einflussbereich für die Nato Thema gewesen sein könnten, stammt vom damaligen deutschen Aussenminister Hans-Dietrich Genscher. Laut «Spiegel» gibt es eine Notiz von einem Gespräch am 10. Februar 1990 mit Genschers russischem Amtskollegen Eduard Schewardnadse. Genscher will darin angedeutet haben: «Was im Übrigen die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dieses ganz generell.» Dieser Beleg ist jedoch sehr schwach, denn in keinem der nachfolgenden Treffen zwischen den Regierungschefs beider Lager werden die osteuropäischen Länder ausserhalb Deutschlands je thematisiert. Ebenso wenig kommen sie in den verschiedenen Abkommen vor, mit denen ab September 1990 die deutsche Wiedervereinigung besiegelt wurde.
Vielleicht weiss das auch Putin. Der russische Präsident behauptet nämlich nicht ausdrücklich, westliche Staaten hätten ein konkretes Versprechen gebrochen. Seine Formulierungen bleiben allgemein. Zum Beispiel sagte er vor zwei Wochen in seiner Krim-Rede: «Sie logen uns viele Male an, fällten Entscheidungen hinter unserem Rücken. Dies geschah bei der Nato-Ausweitung in den Osten, ebenso bei der Stationierung der militärischen Infrastruktur an unseren Grenzen.»
Putin braucht falsches Zitat
Eine programmatische Rede in München von 2007 war konkreter. Putin bezog sich auf die Aussage des früheren Nato-Generalsekretärs Manfred Wörner vom Mai 1990 über die Bedingungen der deutschen Wiedervereinigung. Aber Putin zitiert ihn falsch. Wörner habe zugesichert, es werde «keine Nato-Armee ausserhalb des deutschen Territoriums» geben, behauptet Putin. Tatsächlich steht in der Rede des Generalsekretärs, die Nato werde keine Truppen «ausserhalb des Territoriums der Bundesrepublik» stationieren. Die Formulierung bezieht sich ausschliesslich auf das Gebiet der DDR, nicht auf andere Staaten.
Eine genaue Prüfung der Dokumente kann also keinen Wortbruch bestätigen. Die Ausdehnungspolitik der Nato unter amerikanischer Führung mag nach dem Kalten Krieg aggressiv gewesen sein, triumphalistisch gar und vielleicht unklug. Niemand stellt in Frage, dass sich der Westen in den Jahren nach dem Fall der deutschen Mauer daran machte, freiheitlich-demokratische Staatsordnungen in Osteuropa zu schützen. Unter den US-Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush wurden insgesamt zwölf osteuropäische Länder in die Nato aufgenommen.
Doch in den Gesprächen nach dem Fall der deutschen Mauer am 9. November 1989 wurde nicht über die Zukunft dieser Staaten debattiert. Die Verhandlungen im Februar und den darauf folgenden Monaten drehten sich ausschliesslich um die deutsche Wiedervereinigung. Keiner der deutschen oder amerikanischen Verhandlungspartner versprach dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, die Nato werde nicht expandieren. Anders als Putin suggeriert, verhielt sich der Westen nicht betrügerisch.