Neue ProtesteNelken und Wasserwerfer auf Taksim-Platz
Die Proteste in Istanbul sind wieder aufgeflammt. Demonstranten mit roten Blumen in den Händen skandieren «Der Kampf geht weiter!» – die Polizei reagiert mit Wasserwerfern.
Nach einer knappen Woche ohne Ausschreitungen ist die türkische Polizei auf dem Instanbuler Taksim-Platz in der Nacht auf Sonntag wieder mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Demonstranten vorgegangen. Auf dem Platz hatten sich Tausende Menschen versammelt. Gegen 2 Uhr am Sonntag kontrollierten hunderte Bereitschaftspolizisten die Zugänge zu dem Platz und liessen nur noch wenige Menschen passieren, wie ein AFP-Reporter beobachtete.
Bis zum Einsatz der Wasserwerfer verlief die Demonstration friedlich, wie Augenzeugen berichteten. Die Menschen skandierten Parolen wie «Taksim ist überall» und «Das ist nur der Anfang». Als die Polizei den Platz räumte, flogen vereinzelt Flaschen. Viele Demonstranten bewarfen Polizisten und Wasserwerfer mit Blumen. Über den Kurznachrichtendienst Twitter war dazu aufgerufen worden, rote Nelken mitzubringen, die das Symbol der Arbeiterbewegung sind.
Die Lage hatte sich am Samstag erneut zugespitzt, als sich Gegner des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan auf dem zentralen Platz versammelten. An den Abenden davor hatten die Menschen auf dem Taksim-Platz still protestiert. Zu Zusammenstössen mit der Polizei war es nicht gekommen. Auch in der deutschen Stadt Köln demonstrierten am Samstag 30'000 bis 40'000 Menschen gegen Erdogan. Transparente trugen Aufschriften wie «Erdogan, der Wolf im Schafspelz». Die Kundgebung stand unter dem Motto «Überall ist Taksim».
Verstimmung zwischen Ankara und Berlin
Der deutsche Botschafter Eberhard Pohl verbrachte am Samstag mehr als eine Stunde im türkischen Aussenministerium in Ankara, in das er von der türkischen Regierung einbestellt worden war. Nach Informationen des türkischen Senders NTV wurde Pohl vom türkischen Unterstaatssekretär Feridun Sinirlioglu empfangen. Zum Inhalt des Gesprächs wollten sich beide Seiten nicht äussern.
Nach dem Polizeieinsatz vom vergangenen Wochenende hatte Erdogan gesagt, ab sofort werde es «keine Toleranz mehr» gegenüber gewalttätigen Demonstranten geben. Nach den Statistiken der Türkischen Ärztevereinigung gab es seit dem Beginn der Proteste vier Tote und fast 8000 Verletzte.
Die meisten der mehreren tausend Festgenommenen wurden wieder freigelassen. Allerdings teilten die Behörden mit, dass am Freitag und Samstag in Istanbul und Ankara rund 50 mutmassliche Linksextreme festgenommen wurden.
Der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle traf am Samstag im katarischen Doha mit seinem türkischen Kollegen Ahmet Davutoglu zusammen. Das Gespräch sei «in konstruktiver und freundschaftlicher Atmosphäre» verlaufen, erklärte das Auswärtige Amt in Berlin. Die Minister hätten einen «intensiven Meinungsaustausch im Geiste von Partnern und Freunden» gehabt, darunter auch zu «aktuellen Fragen der Beziehungen» zwischen der EU und der Türkei.
Der türkische Europaminister Egemen Bagis hatte am Freitag das Veto der deutschen Regierung gegen die für kommende Woche vorgesehene Eröffnung eines weiteren Kapitels in den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bedauert und Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgefordert, ihren «Fehler zu verbessern», anderenfalls werde das Folgen haben.
Die Türkei steht bei der EU wegen des brutalen Vorgehens der türkischen Sicherheitskräfte gegen Demonstranten in der Kritik. Merkel hatte die Einsätze der türkischen Polizei am Montag als «viel zu hart» kritisiert.
Türkische Wirtschaft als Verlierer
Ministerpräsident Erdogan machte Kräfte aus dem In- und Ausland für die heftigen Proteste in den vergangenen Wochen verantwortlich. Sie hätten die Demonstrationen orchestriert, sagte Erdogan am Samstag in der Schwarzmeer-Stadt Samsun vor rund 15'000 Anhängern seiner konservativen Partei AKP.
«Wer ist der Gewinner dieser dreiwöchigen Proteste? Die Zins-Lobby, die Feinde der Türkei», sagte der Regierungschef mit Blick auf Spekulanten an den Finanzmärkten. «Wer ist der Verlierer der Proteste? Die türkische Wirtschaft, wenn auch nur zu einem kleinen Teil, der Tourismus.» Die Proteste hätten dem Ansehen der Türkei geschadet.
Erdogan warf den Demonstranten zudem vor, sie würden den Islam - die Religion der Mehrheit der Türken - respektlos behandeln. «Lasst sie in ihren Schuhen in unsere Moscheen gehen, lasst sie Alkohol in unseren Moscheen trinken, lasst sie ihre Hände gegen unsere jungen Frauen in Kopftüchern erheben. Ein Gebet unserer Leute reicht aus, um ihre Pläne zu durchkreuzen.» (jbu/sda)