Niederländische Polizei«Wir werden zu einem Drogenstaat»
Die niederländische Polizei ist gegenüber der ansteigenden Kriminalität machtlos. Das Land habe mittlerweile viele Merkmale eines Drogenstaats, heisst es.
Es entstehe eine kriminelle Parallelwirtschaft, gegen die die Polizei quasi machtlos sei – so steht es in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht des niederländischen Polizeiverbands.
Den offiziellen Zahlen zufolge nimmt die Kriminalität in den Niederlanden zwar ab. Anfang Jahr publizierte die Staatsanwaltschaft dem «Guardian» zufolge ein Papier, wonach sich die Zahl der registrierten Verbrechen in den letzten neun Jahren um 25 Prozent auf unter eine Million reduzierte. Gleichzeitig hielt der Bericht jedoch fest, dass jährlich 3,5 Millionen Verbrechen nicht registriert würden.
Kleinkriminelle werden zu reichen Unternehmern
Diese Zahl deckt sich mit den aktuellen Beobachtungen der Polizeibeamten, die sagen, viele Opfer würden Vorfälle nicht mehr melden, während der organisierten Kriminalität freie Bahn gelassen werde. «Nur eine von neun kriminellen Gruppen kann mit den aktuellen Ressourcen angegangen werden», zitiert die Zeitung «De Telegraaf» aus dem Bericht. Die Polizisten würden angehalten, ihren Fokus auf Gewaltverbrechen wie Raubüberfälle und Morde zu legen.
So könnten die Kriminalbeamten regelrecht zuschauen, wie sich Kleinkriminelle zu wohlhabenden Unternehmern entwickelten und sich in verschiedenen Märkten, etwa der Hotellerie oder Immobilien, behaupteten – oft auch mit guten Kontakten in die Politik.
«Viele Merkmale eines Drogenstaates»
Der Bericht des Polizeiverbands, der auf Interviews mit 400 Beamten beruht, führt weiter an: «Die Niederlande haben viele Merkmale eines Drogenstaates.»
Kritiker der niederländischen «Gedoogbeleid» (Toleranzpolitik), die sich auch gegen den Verkauf von Cannabis in den berühmten Coffeeshops und gegen die legale Prostitution aussprechen, beklagen, die Niederlande seien wie aus Versehen zu einer der wichtigsten Drehscheiben für Drogen- und Menschenhandel avanciert. Tatsächlich erreicht laut Europol die Hälfte des jährlich für 5,7 Milliarden Euro in Europa konsumierten Kokains den Kontinent über den Rotterdamer Hafen.
«Eher ein Überangebot an Pillen»
Zudem ist bekannt, dass die grosse Mehrheit der nach Europa und in die USA verkauften Ecstacy-Pillen aus belgischer und niederländischer Produktion stammt. In den Niederlanden befinden sich die Labore hauptsächlich im Süden des Landes und werden zunehmend von marokkanischen Gangs betrieben, die auch im Cannabis-Markt aktiv sind.
Dass die Niederlande Europa ausreichend mit Ecstasy versorgen, zeigt sich auch in der Schweiz. Die Nachfrage nach den Pillen sei auch hier nach wie vor hoch, «das hat sich in den letzten Jahren kaum verändert», sagt Koni Wäch vom Schweizer Drogenforum Eve & Rave. So steht es auch im aktuellen Bericht von Sucht Schweiz. Der Markt sei gross: «Engpässe gibt es für die Konsumenten nicht», so Wäch.
Selbst wenn die Polizei eine grosse Menge Ecstasy beschlagnahme, bekomme man das in der Szene nicht zu spüren. «Man kann sogar eher von einem Überangebot sprechen. Auch weil es in den letzten Jahren einfacher wurde, an die Pillen zu kommen – etwa online.»
Auftragsmord für 3000 Euro
Dass die niederländische Polizei am Anschlag ist, machte diesen Monat auch Amsterdams Bürgermeister klar. Gemeinsam mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft warnte er öffentlich vor einem Anstieg der Kriminalität und ihrer Verlagerung auf Wohngebiete, oft ausser Sichtweite der Behörden.
Seine Leute seien zu 70 Prozent mit der Bekämpfung von Bandenkriminalität beschäftigt, sagte der Amsterdamer Polizeichef Pieter-Jaap Aalbersberg. Und es gebe eine weitere Veränderung: Mittlerweile seien junge Männer für weniger als 3000 Euro bereit, Morde zu verüben, zitiert ihn der «Guardian» aus einem Interview diesen Februar. «In den 1980er- und 1990er-Jahren kamen professionelle Auftragsmörder für 50'000 Euro aus dem Ausland hierher», sagte er. «In den letzten Jahren sehen wir hingegen Buben aus Amsterdam.»
Justizminister will nichts von Drogenstaat wissen
Der aktuelle Bericht liegt auch dem Minister für Justiz und Sicherheit, Ferd Grapperhaus, vor. Er warnte vor «mangelnder Kapazität zur Bekämpfung organisierter Kriminalität» und sagte, er wolle das «Signal» ernst nehmen. Offensichtlich seien Investitionen in die Polizeiarbeit notwendig. Gleichzeitig betonte er aber, dass man nachhaltige Erfolge bei der Verfolgung von Drogenkriminalität erziele. Daher halte er den Begriff «Drogenstaat» für falsch.