ParlamentswahlTürken erteilen Erdogans Machtplänen eine Abfuhr
Präsident Erdogans AKP hat die angestrebte Zwei-Drittel-Mehrheit bei den türkischen Parlamentswahl klar verfehlt. Hingegen feiert die pro-kurdische Partei HDP den Einzug ins Parlament.

Parlamentswahl in der Türkei: Eine Frau gibt in Istanbul ihre Stimme ab.
Es ist nicht weniger als ein politisches Erdbeben in der Türkei: Seit 2002 regiert die islamisch-konservative AKP mit absoluter Mehrheit. Ihr Mitbegründer, der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, legte in dieser Zeit einen zunehmend autoritären Herrschaftsstil an den Tag. Bei der Parlamentswahl am Sonntag haben die Wähler nicht nur die AKP abgestraft, sondern auch den Präsidenten.
Die AKP hat nach Auszählung fast aller Stimmen die absolute Mehrheit verloren. Die kleine pro-kurdische HDP hat die Pläne Erdogans auf absehbare Zeit durchkreuzt, zum uneingeschränkten Machthaber zu werden.
Die AKP und ihr von Erdogan installierter Chef Ahmet Davutoglu stehen vor einem Scherbenhaufen. Die erfolgsverwöhnte Partei war 2002 aus dem Stand an die Macht gekommen. Seitdem konnte sie bei jeder Parlamentswahl mehr Stimmen verbuchen, 2011 kam sie noch auf fast 50 Prozent. Am Sonntag waren es gerade mal noch etwas über 40 Prozent.
Geplantes Präsidialsystem verfehlt
Nun muss die AKP versuchen, eine Minderheitsregierung zu bilden oder einen Koalitionspartner zu finden. Sollte das nicht gelingen, kann Präsident Erdogan Neuwahlen ausrufen. Das Ziel, 60 Prozent der Sitze zu erobern und damit den Weg für eine Verfassungsreform und ein Präsidialsystem unter Erdogan zu ebnen, hat die AKP weit verfehlt.
Selbst früheren AKP-Anhängern war unwohl bei dem Gedanken, der AKP und Erdogan quasi einen Blankoscheck für das Präsidialsystem auszustellen. Weder die AKP noch Erdogan haben sich bislang die Mühe gemacht zu erklären, wie ein solches System denn eigentlich aussehen soll - und wieviel Macht der Präsident darin haben soll.
Das Wahlergebnis ist nun besonders für Erdogan eine Niederlage, der für eine Mehrheit von 400 Sitzen geworben hatte - jetzt wird die AKP nur rund 260 Abgeordnete im neuen Parlament stellen. Erdogan brachte sich mit vollem Elan in den Wahlkampf ein, obwohl der Präsident laut Verfassung neutral sein muss.
Bei fast jeder Gelegenheit griff Erdogan die HDP und ihren Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas an. Der hatte sich zum Ziel gesetzt, eine Erdogan-«Diktatur» zu verhindern. Berühmt wurde seine 90-Sekunden-Rede im Parlament vom März, als er sagte: «Recep Tayyip Erdogan, solange es die HDP gibt, solange HDP-ler auf dieser Erde atmen, wirst Du nicht Präsident (in einem Präsidialsystem) werden.»
Eingreifen in Wahlkampf
Durch sein Eingreifen in den Wahlkampf hat Erdogan aus Sicht der Opposition gegen die Verfassung verstossen. Die Verfassung verpflichtet den Präsidenten auch dazu, jede Verbindungen zu Parteien zu beenden.
Dabei ist jedem klar, wer die AKP weiter kontrolliert. «Erdogan ist immer noch der Anführer», sagt ein 63-jähriger AKP-Anhänger in Istanbul zu den Machtverhältnissen. «Die Partei folgt ihm.»
Für AKP-Anhänger sind solche Oppositionsvorwürfe nebensächlich. Für sie zählen vor allem die unbestrittenen Erfolge der AKP-Regierung, wobei die Trennlinie zwischen Regierung und Staatsoberhaupt oft verschwimmt.
«Ich kann jetzt sehr viel besser leben als früher, und das alles haben wir Erdogan und seiner Partei zu verdanken», sagt ein 24-Jährige Wähler in Istanbul. Die 38-jährige Leyla Celik sagt: «Wir sehen den Erfolg, den Erdogan gebracht hat. Deshalb unterstützen wir das Präsidialsystem.»
HDP: Überwältigender Sieg
Aus diesem System dürfte nun auf absehbare Zeit nichts werden. Demirtas spricht am Abend in Istanbul von einem «überwältigenden Sieg». Und fügt hinzu: «In der Türkei sind die Diskussionen um das Präsidialsystem und die Diktatur beendet.»
Noch bevor das amtliche Endergebnis feststand, feierten die Menschen in der Kurden-Metropole Diyarbakir. Nach der beispiellosen Zitterpartie, ob die HDP über die magische Zehn-Prozent-Hürde kommt, brach sich die Euphorie Bahn. Kurden zündeten Feuerwerk. Sie skandierten «Wir sind die HDP, wir gehen ins Parlament».
Auch der 27-Jährige Kurde Nehat Aydin gehört zu den Feiernden in Diyarbakir, er sagt: «Ich glaube, dass Erdogan auf dem Weg nach draussen ist.»
Dabei dürfte zwar der Wunsch der Vater des Gedanken sein - Erdogan gibt nicht schnell auf, im Gegenteil. Aber beschädigt sind er und die AKP doch. Der regierungskritische Journalist Murat Yetkin sagt auf CNN Türk: «Das ist das Ende des Aufstiegs der AKP.» (woz/sda)
Mehrheit der Türken in der Schweiz stimmt für HDP
Die islamisch-konservative Partei AKP hat bei den Türken in der Schweiz eine Abfuhr erlitten. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu von Sonntag stimmten die meisten in der Schweiz lebenden türkischen Wahlberechtigten für die pro-kurdische Partei HDP (rund 49 Prozent), gefolgt von der AKP (rund 24 Prozent).
In Deutschland dagegen stimmten 53 Prozent für die AKP. Die HDP kam auf 18,7 Prozent. Drittstärkste Kraft wurde die CHP mit 15,8 Prozent. Gar rund 64 Prozent der in Österreich lebenden wahlberechtigten Türken wählten die AKP. Die pro-kurdische Partei HDP bekam dort rund 14 Prozent.
Fast die Hälfte der rund 2,9 Millionen Türken, die im Ausland ihre Stimme abgeben durften, leben in Deutschland. Nach Angaben von Anadolu lag deren Wahlbeteiligung bei rund 44 Prozent.