Vom Kleinkriminellen zum Attentäter von Berlin

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Anis AmriVom Kleinkriminellen zum Attentäter von Berlin

Er kam als 18-Jähriger in Lampedusa an, radikalisierte sich im Gefängnis und wurde monatelang überwacht: So lebte Anis Amri in den letzten Jahren.

von
thu
Schreckliche Nachricht aus Europa: Hanan Amri, die Schwester von Anis Amri, hält ein Porträt ihres Bruders umklammert. (23. Dezember 2016)

Schreckliche Nachricht aus Europa: Hanan Amri, die Schwester von Anis Amri, hält ein Porträt ihres Bruders umklammert. (23. Dezember 2016)

AFP/Faouzi Dridi

Die tagelange Flucht von Anis Amri hat am Freitagmorgen in Mailand ein Ende gefunden: Der europaweit gesuchte mutmassliche Attentäter vom Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz wurde in der norditalienischen Metropole von der Polizei erschossen – einen Tag nach seinem 24. Geburtstag. Die Suche nach dem tunesischen Terrorverdächtigen ist damit beendet. Seine Radikalisierung unter den Augen der deutschen Behörden und sein Weg durch Europa lassen indes viele Fragen offen.

Amri wurde am 22. Dezember 1992 in Tunesien geboren und wuchs mit acht Geschwistern in der Stadt Oueslatia auf. In seiner Jugend war Amri nach Angaben seiner Familie kein gläubiger Muslim: Er habe «wie alle Jugendlichen» Alkohol getrunken und nicht gebetet, sagte sein Bruder Walid der Nachrichtenagentur AFP.

Er fiel zudem als Kleinkrimineller auf: Im März 2011 ging Amri nach Europa, um einer vierjährigen Gefängnisstrafe wegen Diebstahls und Einbruchs zu entgehen. Nach Angaben seines Bruders Abdelkader wollte Amri aber auch der «Armut» in Tunesien entkommen: «Er hatte in Tunesien keine Zukunft und wollte um jeden Preis die finanzielle Situation unserer Familie verbessern.»

Ankunft auf Lampedusa

Wie viele Bootsflüchtlinge kam der 18-Jährige auf der italienischen Insel Lampedusa an. Dort soll er sich als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling ausgegeben haben. Er wurde in ein Aufnahmezentrum in Belpasso auf Sizilien gebracht, wo er aber bald schon wieder mit dem Gesetz in Konflikt kam: Am 24. Oktober 2011 wurde Amri zusammen mit drei anderen Tunesiern festgenommen, weil er eine Schule in Brand gesteckt hatte.

Ein italienisches Gericht verurteile Amri wegen Brandstiftung, Körperverletzung und Diebstahls zu vier Jahren Haft. Er sass seine Haftstrafe in voller Länge und in mehreren Gefängnissen auf Sizilien ab, wo er sich italienischen Medienberichten zufolge radikalisierte. Im Mai 2015 wurde Amri in ein Abschiebegefängnis auf Sizilien gebracht. Seine Abschiebung scheiterte offenbar jedoch daran, dass Tunesien ihn nicht zurücknehmen wollte.

Amri kam aus der Abschiebehaft frei und reiste im Juli 2015 nach Deutschland aus. Er hielt sich in Baden-Württemberg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und schliesslich ab Februar dieses Jahres wieder hauptsächlich in Berlin auf. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Gleichzeitig geriet der junge Tunesier ins Visier der Ermittler. Er wurde von mehreren Sicherheitsbehörden als «Gefährder» eingestuft, weil er Kontakte zur radikalislamischen Szene unterhielt.

Medienberichten zufolge bot sich Amri schon vor Monaten als Selbstmordattentäter an. Auch soll er sich erkundigt haben, wie er sich Waffen beschaffen könne.

Monatelange Ermittlungen

Gegen Amri wurde monatelang wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat ermittelt. Die Berliner Justiz observierte ihn von März bis September. Es bestand der Verdacht, dass er einen Einbruch plante, um Geld für den Kauf automatischer Waffen zu beschaffen – nach Angaben der Berliner Staatsanwaltschaft «möglicherweise, um damit später mit noch zu gewinnenden Mittätern einen Anschlag zu begehen».

Die Überwachung brachte nach Angaben der Behörden jedoch keine Hinweise, so dass sie im September schliesslich eingestellt wurde. Während der Zeit der Observierung fiel Amri offenbar als Kleindealer auf. Seine Abschiebung scheiterte auch in Deutschland an bürokratischen Hindernissen: Amri hatte keine gültigen Ausweispapiere und die Behörden seines Heimatlandes bestritten, dass er Tunesier war. Ein Verfahren zur Ausstellung eines Ersatzpasses zog sich seit August hin.

Am Mittwoch übermittelten die tunesischen Behörden die Papiere schliesslich – zwei Tage nachdem Amri mit einem Lastwagen in den Berliner Weihnachtsmarkt raste und insgesamt zwölf Menschen tötete und fast 50 weitere verletzte.

Tunesische Heimatstadt in Aufruhr

Die tunesische Heimatstadt von Anis Amri verarbeitet die Nachricht von der Tötung des mutmasslichen Berlin-Attentäters. Amris Bruder Abdelkader sagte der Nachrichtenagentur AP am Freitag telefonisch, dass seine Familie die «Wahrheit über meinen Bruder» herausfinden wolle. Er legte auf, als er zur Reaktion seiner Angehörigen auf die Todesnachricht befragt wurde.

Die Familie habe eine Menschenmenge in der Stadt Oueslatia nach dem Bekanntwerden von Amris Tod aufgefordert, vor dem Haus zu verschwinden, sagte ein Nachbar. Jeder in der Stadt spreche über Amri. Amris Mutter und Geschwister haben die Anschuldigungen der deutschen Behörden in Frage gestellt, dass der 24-Jährige wirklich der Mann sei, der einen Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche gesteuert haben soll. (thu/sda)

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