War es der IS oder nicht?

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Anschlag in AnkaraWar es der IS oder nicht?

Nach dem Doppelanschlag in Ankara sind noch viele Fragen offen. Ein Überblick mit einigen Antworten.

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Zwei Tage nach den beiden Explosionen während eines Friedensmarsches in Ankara ist die Zahl der Opfer immer noch unklar. Die pro-kurdische Partei HDP gab die Zahl der Toten mit 128 an, während die Regierung erklärte, 97 Menschen seien getötet worden. Mehr als 500 weitere Menschen wurden verletzt. Es sind noch viele weitere Fragen offen. Ein Überblick mit einigen Antworten.

Wer steckt dahinter?

Die Jihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) ist nach den Worten des türkischen Regierungschefs Ahmet Davutoglu die Hauptverdächtige. Angesichts der Vorgehensweise bei dem Anschlag werde vor allem gegen den IS ermittelt, so Davutoglu am Montag im türkischen Fernsehsender NTV. Am Wochenende hatte Davutoglu noch den IS, die PKK sowie die linksextremistische DHKP-C im selben Atemzug als mögliche Verdächtige genannt. Einige regierungsnahe Medien verbreiten seither die Theorie, dass die PKK den Anschlag im Auftrag des syrischen Machthabers Baschar al-Assad ausführte.

Dass die PKK ihre eigenen Anhänger umbringt, erscheint indes befremdlich – auch wenn es in den Augen der Regierungspartei AKP auf verquere und zynische Art Sinn macht: Die pro-kurdische Partei HDP, so die Denke, könnte vor den Parlamentswahlen in drei Wochen politisch und moralisch Vorteile aus dem Anschlag ziehen. Die Kurden-freundliche Oppositionspartei HDP beschuldigt ihrerseits die islamisch-konservative AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, ihre Finger im Spiel zu haben, um ihre Stellung vor der Wahl am 1. November zu stärken.

Von einer weiteren Eskalation der Gewalt, so die NZZ in ihrer heutigen Printausgabe, profitiert aber letztlich Erdogan selbst: «Er könnte, so sein Kalkül, die als Terroristenpartei abgestempelte HDP unter die Zehn-Prozent-Hürde drücken und sich die Macht sichern.»

Wer könnte als Drahtzieher noch in Frage kommen?

Die Regierung hat vor allem die unliebsame politische Opposition und die verbotene Arbeiterpartei PKK als Verantwortliche im Auge. In Frage kommen könnten aber auch türkische Rechtsextremisten wie die Grauen Wölfe, die ebenfalls Kurden und Linke im Visier haben. Oppositionskreise haben zudem die Anschuldigung erhoben, dass der Staat selbst hinter den Anschlägen stecke. Tatsächlich, so schreibt die NZZ in ihrer heutigen Print-Ausgabe, sei es denkbar, dass der sogenannte «tiefe Staat» in die Anschläge verwickelt sein könnte – jener Teil der Sicherheitskräfte, der weitgehend unkontrolliert jeweils auf eigene Faust operiert.

Stutzig macht auf jeden Fall, dass sich zu diesem Anschlag niemand bekannt hat – ebenso wenig wie zu den Attentaten von Suruc und Diyarbakirden, den beiden anderen Anschlägen auf mehrheitlich kurdische Aktivisten in den vergangenen Monaten. Auch diese beiden tödlichen Zwischenfälle wurden dem IS zugeschrieben. Beweise dafür gibt es bis heute nicht.

Was spricht für ein IS-Attentat?

Die in Ankara verwendeten Sprengsätze — TNT-Sprengstoff mit Metallkugeln — gleichen jener Bombe, mit der im Juli ein Selbstmordattentäter mehr als 30 Menschen in der Stadt Suruc an der syrischen Grenze getötet hatte. Das meldet die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu. Musa Çam von der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP twitterte das Foto einer Metallkugel, die er nach eigenen Angaben am Tatort gefunden hatte. Zeugen erzählten zudem türkischen Medien, sie hätten gehört, dass jemand «Allahu Akbar – Gott ist gross» vor der Explosion gerufen habe.

Der IS hatte Ankara bereits mehrfach gedroht, nachdem die Türkei sich im Sommer zögerlich dazu entschlossen hatte, die Anti-IS-Koalition bei ihren Luftschlägen zu unterstützen. Und: In den kommenden Tagen will die Anti-IS-Koalition eine Offensive gegen Raqqa starten, der inoffiziellen Hauptstadt in dem sogenannten IS-Kalifat. Der Anschlag könnte damit auch als Vorwarnung gelten.

Wer sind die Brüder Alagöz?

Der 25-jährige Yunus Emre Alagöz steht derzeit im Fokus der Ermittler, wie die türkische Zeitung Habertürk berichtet. Alagöz stammt aus dem nordosttürkischen Adiyaman und ist Bruder des Selbstmordattentäters, der am 20. Juli 30 kurdische und linke Aktivisten in den Tod riss. Laut Polizei reisten die Brüder Alagöz 2014 nach Syrien, schlossen sich dem IS an und lernten, Bomben zu bauen. In Ankara werten türkischen Beamte derzeit DNA-Proben der mutmasslichen Selbstmordattentäter sowie Bilder von Überwachungskameras aus.

Was für eine Rolle spielt die türkische Polizei?

Vor der Demonstration der Friedensaktivisten seien Terrordrohungen bei der Polizei eingegangen, die offensichtlich keine grössere Beachtung fanden. Kurz vor Beginn der Demonstration hatte die Polizei am Sihhiye-Platz in Ankara einen Kontrollposten aufgestellt. Die Veranstaltung hätte dort stattfinden sollen. Doch die meisten Teilnehmer versammelten sich schliesslich vor dem Hauptbahnhof – wo es keine Kontrollen gab. Deswegen kritisiert der Vize-Vorsitzende der regierenden AKP-Partei, Mehmet Ali Sahin, das Vorgehen der Polizei. Die Sicherheitsmassnahmen seien ungenügend gewesen. Die Polizei weist den Vorwurf von sich: Das Gelände sei vor der Kundgebung gründlich durchsucht worden. Es gab auch Rufe, wonach der türkische Innenminister Selami Altinok zurücktreten solle, was dieser aber ablehnt.

Wie wirkt sich der Syrien-Krieg auf die Stabilität der Türkei aus?

«Willkommen im Nahen Osten», beantwortet der türkische Terrorexperte Nihat Ali Özcan diese Frage gegenüber der «Presse». So greife der Syrien-Konflikt immer mehr auf die Türkei über. Denn in Syrien kämpfen Türken sowohl in den Reihen von Islamistengruppen als auch bei Regime-treuen Milizen. «Und alle tragen den Krieg zurück in die Türkei», so der Experte. Kommt hinzu, dass der fehlende politische Konsens und die Willkür des Regimes «die Türkei immer mehr zu einem krisengeschüttelten Nahost-Staat» werden lasse.

Wie sicher ist die Türkei für Touristen?

Das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat seine Reisehinweise zur Türkei aktualisiert und warnt davor, dass «trotz erhöhter Sicherheitsmassnahmen» im ganzen Land mit Anschlägen gerechnet werden müsse. Die Parlamentswahlen vom 1. November würden in einer angespannten Atmosphäre stattfinden, und es sei deswegen auch in der touristischen Region in der Nähe von Antalya zu Massenprotesten gekommen. Deswegen rät das EDA dazu, Menschenansammlungen und Demonstrationen aller Art zu meiden.

Was Schweizer Reisebüros zum Anschlag in Ankara sagen, lesen Sie hier.

AKP unterbricht nach HDP ihren Wahlkampf

Die türkische Regierungspartei AKP sagt nach dem Bombenanschlag von Ankara alle Wahlkampfveranstaltungen bis Freitag ab. Das kündigte Parteisprecher Omer Celik am Montag an. Zuvor hatte die pro-kurdische HDP erklärt, sie erwäge eine Absage alle Veranstaltungen vor der Parlamentswahl am 1. November. Nach Regierungsangaben wurden bei dem Anschlag am Samstag fast 100 Menschen getötet, die HDP sprach sogar von fast 130 Toten.

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