Der User unter der Lupe«Kommentare haben etwas Voyeuristisches»
Fast 1,4 Millionen Kommentare haben die Leser 2012 auf 20 Minuten Online gepostet. Und sie schreiben nicht nur – neun von zehn Usern lesen regelmässig, was andere schreiben. Was treibt den User an?
2012 haben die Leserinnen und Leser von 20 Minuten Online einen neuen Rekord aufgestellt: Im laufenden Jahr gingen bis zum Stichtag 17. Dezember insgesamt 1'380'272 Kommentare zu aktuellen Storys ein. Gegenüber dem Vorjahr ist das eine Steigerung von 77 Prozent. Im Durchschnitt wurden sage und schreibe 3910 Kommentare pro Tag verfasst.
Von den Interaktionsmöglichkeiten – egal ob in Umfragen, im Feedback oder via Kommentarfeld – wird rege Gebrauch gemacht. Doch was sind die Gründe für den enormen Mitteilungsbedarf der Leser? Und wie wird die Flut an Beiträgen überhaupt gehandhabt? Anlässlich der höchst erfreulichen Zahlen beleuchten wir das Phänomen und plaudern aus dem Nähkästchen der Online-Redaktion.
«Informieren, beeinflussen, Dampf ablassen»
Dass 20 Minuten Online das Mitmachportal Nummer eins unter den Schweizer Newssites ist und die Leser so rege kommentieren, hat für Thomas Friemel vom Institut für Publizistikwissenschaft handfeste Gründe: «Das Publikum hier ist gegenüber den Möglichkeiten des Internets sehr aufgeschlossen.» Ausserdem existiert die Kommentarfunktion seit 10 Jahren auf der Newssite. «Somit wurde früh eine entsprechende Austauschkultur entwickelt und gepflegt, noch bevor Twitter und Facebook gegründet wurden.»
Das findet Anklang. 59 Prozent der 20-Minuten-Online-Nutzer lesen nach eigener Auskunft täglich oder fast täglich die Kommentare. Weitere 30 Prozent mindestens einmal pro Woche. Der Hauptgrund ist, dass die Leute wissen wollen, was andere zu dem Thema denken und dabei viel Spass haben und sich auch richtig ärgern können. «Kommentare haben etwas Voyeuristisches, sie sind wie Reality-TV im News-Bereich. Auch das Fremdschämen für peinliche Äusserungen von anderen übt eine grosse Faszination auf die Leser aus, was zu einem hohen Unterhaltungswert führt», erläutert Medienforscher Thomas Friemel die Ergebnisse einer Studie der Universität Zürich.
Was sind überhaupt die Motive, einen Kommentar zu verfassen? Auch hierzu liefert die Umfrage Erklärungen: «Primäres Bedürfnis ist es, die eigene Meinung kundzutun, andere zu informieren und nicht selten auch der Versuch, andere Zeitgenossen zu beeinflussen. Das Zweite ist die Ventilfunktion für Emotionen. Vor allem das Bedürfnis, Ärger und Wut Luft zu machen.» Das trifft vor allem auf Themen zu, die stark polarisieren oder über die aus Sicht des Lesers nicht richtig berichtet wird.
Wie ein Kommentar auf die Seite gelangt
Die Möglichkeit des Kommentarschreibens wird von Usern aber nicht nur enorm geschätzt - viele erheben regelrecht Anspruch auf die Möglichkeit: Hat eine Story einmal keine Kommentarfunktion, wird schnell der Vorwurf laut, wir würden gegen das Recht auf freie Meinungsäusserung verstossen. Dabei wendet die Redaktion schon heute Monat für Monat allein für diese Interaktionsmöglichkeit einen fünfstelligen Betrag auf.
Vor allem die Sichtung der Kommentare ist aufwändig, aber unerlässlich. Denn: «Sollten Leserbeiträge strafrechtlich relevante Äusserungen enthalten, so ist die Redaktion dafür haftbar», erklärt Friemel. Doch auch abseits dieses Aspekts ist es wichtig, die Kommentare vor einer Freischaltung zu filtern. Dadurch sollen auch beleidigende, fremdenfeindliche, offensichtlich unrichtige und völlig unverständliche sowie unleserliche Kommentare herausgefischt werden. Auch latente Beleidigungen oder indirekte Angriffe auf andere Kommentarschreiber werden nicht geduldet.
Bevor ein Kommentar wirklich freigeschaltet wird, hat er bereits einen zweistufigen automatischen Prozess durchlaufen. In einem ersten Schritt werden Kommentare, die lediglich ein Wort wie «Yo» oder mehr als 30 Ausrufezeichen enthalten, ausgesondert. Denn diese tragen nicht wirklich zur Diskussion bei. In einem zweiten Schritt werden sie mit Hilfe eines intelligenten Algorithmus geprüft. Dabei fallen Kommentare, die in Dialekt oder in einer anderen Sprache verfasst sind, durchs Raster. Anschliessend ist Handarbeit angesagt.
Mythos Maulkorb
Diese Aufgabe erledigt ein Team von 18 Kommentarfreischaltern, die im Schichtbetrieb arbeiten – meistens zwei oder drei Personen in einer Schicht. An Spitzenzeiten und am Wochenende werden sie von den übrigen Redaktoren unterstützt. Trotz allem: An Spitzentagen mit über 8'000 eingehenden Kommentaren bleibt dies eine sportliche Herausforderung.
Von den rund 1,4 Millionen Leser-Kommentaren, die 2012 eingingen, wurde etwas mehr als eine halbe Million gelöscht. Also knapp zwei Fünftel. Die Redaktion erhält täglich Mails mit Beschwerden wie «Meine Kommentare werden immer gelöscht» oder «Nur weil euch meine Meinung nicht passt, wird mir ein Maulkorb umgehängt». Doch eine Blacklist oder Ähnliches gibt es nicht. Jeder Kommentar wird bearbeitet. Dabei wird nicht nach Gutdünken gelöscht, sondern anhand definierter Standards. Schliesslich bringt es keinem Leser etwas, einen Kommentar wie «Ich finde es doof. Aber auch geil» zu lesen – das ist übrigens ein O-Ton. Ausserdem verhindert schon die grosse Zahl an Freischaltern, dass einseitig gelöscht wird. Und bei über 800'000 freigeschalteten Kommentaren kann man getrost davon ausgehen, dass das Meinungsspektrum breit ist.
Olaf Kunz ist Leiter Community bei 20 Minuten Online. Zu seinem Team gehören auch die 18 Teilzeit-MitarbeiterInnen, die die Kommentare sichten und freischalten.
Wie kommt mein Kommentar schneller ins Netz?
Immer wieder fragen Leser, was sie tun können, damit der von ihnen verfasste Online-Kommentar schneller bearbeitet wird. Hier gibt es einen einfachen Weg: Wer sich einloggt und als eingeloggter User einen Beitrag schreibt, erhält Vorfahrt bei der Sichtung. Denn die Kommentare von eingeloggten Usern erscheinen auf der Sichtungsliste für die Freischalter ganz oben und werden deshalb als erstes abgearbeitet.
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