UrheberrechteACTA - Angst um Internetfreiheit ist gross
Mit dem internationalen Anti-Piraterie-Abkommen soll Raubkopierern der Kampf angesagt werden. Doch eine Umfrage zeigt: Die Netzgemeinde in der Schweiz wittert Zensur.
Egal, ob ein Video von der letzten Party mit Musik im Hintergrund hochladen, einen Kinofilm von Filesharing-Servern downloaden oder ein lustiges Bild aus dem Netz auf Facebook posten – wer im Internet aktiv ist, kommt sehr leicht mit Urheberrechtsverletzungen in Berührung. Ein internationales Anti-Piraterie-Abkommen soll es aber schon bald möglich machen, solche Zuwiderhandlungen strenger zu verfolgen. Doch es regt sich massiver Widerstand – auch in der Schweiz: Über 80 Prozent der Teilnehmer einer aktuellen Umfrage von 20 Minuten Online in Kooperation mit dem gfs.bern lehnen das «Anti-Counterfeiting Trade Agreement», kurz ACTA, rundweg ab.
Bei näherem Hinschauen zeigt sich, dass die Netzgemeinde zwar illegale Raubkopien und Gratis-Downloads von rechtlich geschützten Inhalten als Kavaliersdelikt ansieht, Urheberschutz aber keinesfalls generell ablehnt. Vielmehr wird eine Neuausrichtung des Urheberrechts gefordert. Ganz nebenbei beleuchtet die Umfrage ausserdem ein neues Internet-Phänomen, das bislang noch überhaupt nicht erforscht ist.
Jung, männlich, Pirat
Diverse Organisationen, Blogs und Foren haben in den vergangenen Wochen eine massive Opposition gegen das umstrittene Abkommen formiert. Offenbar hat dieser Protest eine ganz bestimmte Bevölkerungsschicht mobilisiert. Darauf zumindest lässt die Struktur der 3179 Teilnehmer an der Umfrage schliessen, die vorwiegend von ACTA-Gegnern angeklickt wurde. Satte 87 Prozent derjenigen, die sich an der Online-Erhebung beteiligten, sind männlich. 63 Prozent der Befragten sind zwischen 14 und 29 Jahre, 17 Prozent zwischen 30 und 39 Jahre alt. 19 Prozent der Teilnehmer stehen ausserdem der Piratenpartei nahe.
Angriff auf die Internet-Heimat
Damit ist die Studie zwar alles andere als repräsentativ. Dennoch sind die Ergebnisse für Urs Bieri, Projektleiter bei gfs.bern, höchst aufschlussreich. «Die Ergebnisse zeigen erstmals auf, dass es bei den Protesten um mehr geht als nur um die Möglichkeit gratis Musik und Filme auszutauschen. Das Internet ist heute ein Ort mit vielen Freiheiten und anderen Regeln, als wir dies aus der Realwelt kennen.» Gerade im Zusammenhang mit Urheberrechten führt das zu einer heiklen Kontroverse: Die Freiheit im Umgang mit dem Werk scheint wichtiger als der rechtliche Schutz des Eigentümers. Aus Sicht der Gegner wolle ACTA das Recht zum freien Austausch einschränken, um ein scheinbar veraltetes Recht, das Urheberrecht, zu schützen. «Bei ACTA geht es also um zwei grundsätzliche Rechtsverständnisse, die aufeinanderprallen – und nicht nur einfach um illegal kopierte Filme.»
Aus Sicht des Politikwissenschaftlers liegt der Grund dieser Auffassung vor allem darin, dass die Mehrheit der Menschen in der Schweiz täglich etliche Stunden im Internet verbringt. «Das Web ist für sie ein Stück Heimat. In dieser wollen sie die Rechtssetzung nicht einfach kampflos denjenigen überlassen, welche am Internet Geld verdienen und damit Eigeninteressen verfolgen.» Genau dieser Zusammenhang werde durch die vorliegende Studie erstmals an einem konkreten Beispiel quantitativ nachgewiesen.
Urheberrecht ja, aber nicht im Web
Das Urheberrecht an sich wird von den Umfrageteilnehmern aber keinesfalls per se abgelehnt. 40 Prozent finden den Schutz geistigen Eigentums durchaus wichtig. So zum Beispiel im Falle teurer Forschung und der daraus resultierenden Methoden und Produkte. Dies unterstützen immerhin 44 Prozent. Trotzdem: Egal ob Musik, Filme oder Software - drei Viertel aller Befragten haben schon geschützte Inhalte aus dem Internet heruntergeladen. Weitere 25 Prozent haben solche Dateien schon selbst ins Netz gestellt. 83 Prozent rechtfertigen illegale Musik-Downloads damit, dass die Musiker davon indirekt profitieren, da dadurch ihr Bekanntheitsgrad steige. Breite Ablehnung erhält hingegen die Aussage, das illegale Downloads durchaus mit Verbrechen wie Ladendiebstahl gleichzusetzen seien.
Zensurvorwurf haltlos?
Insgesamt 75 Prozent der Befragten befürchten, dass bei Inkrafttreten des neuen Handelsabkommens der Internetzugang von Nutzern eingeschränkt werden könnte. Völlig zu Unrecht, findet Mathias Schaeli, Leiter Internationale Handelsbeziehungen beim Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum. «ACTA ändert nichts an der heutigen Rechtslage in der Schweiz oder an der Nutzung des Internets», betont das Mitglied der Schweizer Delegation an den Verhandlungen zum Abkommen. Beim Online-Kampagnen-Netzwerk Avaaz.org traut man solchen Aussagen nicht. In dicken Lettern wird auf der Webseite gewarnt: «ACTA könnte Konzernen erlauben, alles, was wir im Internet tun, zu überwachen.» Gemeint sind insbesondere die Musik- und Filmindustrie sowie Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsverlage.
Dieses Argument löst sogar bei Economiesuisse gewisses Unbehagen aus. Trotz der naheliegenden Pro-Haltung zu ACTA plädiert der Verband Schweizer Unternehmen dafür, mit der Unterzeichnung zu warten. Für Thomas Pletscher, Leiter Wettbewerb und Regulatorisches, ist nämliches keinesfalls garantiert, dass Internetserviceprovider im Falle von Urheberrechtsverletzungen künftig nicht verpflichtet seien, Internetaktivitäten zu überwachen und bei Urheberrechtsverletzungen User-Daten an ausländische Behörden weiterzuleiten. «Dies ist laut der vorliegenden Version des ACTA-Abkommens zwar optional. Wenn dies aber einige Staaten verpflichtend umsetzen, könnte das auch für die Schweiz später zwingend werden.»
Zukunft von ACTA in Gefahr
Bis im Mai 2013 muss eine Mehrheit der Mitgliedsländer ACTA unterzeichnet haben, damit das Abkommen in Kraft tritt. Der Bundesrat hält ungeachtet der Kritik und der Proteste an der Absicht zur Ratifizierung fest. Andernorts haben Regierungen indes die Notbremse gezogen. Bulgarien hat die Ratifizierung mittlerweile ausgesetzt, in Deutschland und den Niederlanden ruht sie. Nach der Überreichung von mehr als 2,5 Millionen Unterschriften zur Online-Petition von Avaaz hat auch die EU-Kommission reagiert. Sie lässt nun den Text vom Europäischen Gerichtshof überprüfen.
Eine detaillierte Zusammenstellung der Ergebnisse der Umfrage findet sich im Kurzbericht (PDF, 220 kb)

Infos zur Umfrage
Die Ergebnisse der ACTA-Studie basieren auf einer Online-Befragung von 3179 Personen, die zwischen dem 1. und 8. März 2012 von 20 Minuten Online durchgeführt wurde. Die Ergebnisse der Befragung sind nicht repräsentativ für die Schweizer Bevölkerung, liefern aber dennoch zahlreiche Einblicke in das Verständnis von Internetfreiheit in der Schweiz. Den kompletten Kurzbericht des gfs.bern zum Download gibt es hier >>
Warum die Zusammenarbeit?
20 Minuten Online und das Forschungsinstitut gfs.bern werden in den kommenden Monaten diverse Umfragen gemeinsam durchführen. Ziel der Zusammenarbeit ist es, die Aussagequalität der Umfragen schrittweise zu erhöhen. Dabei kommt ein spezielles Gewichtungsmodell zum Einsatz. Alle Umfragen sind vollkommen anonym.
