Flirten 2.0Hohe Ansprüche sind bei Tinder fehl am Platz
Die kalifornische Flirt-App Tinder verspricht prickelnde Bekanntschaften in der Nähe. 20 Minuten hat die Applikation im Selbstversuch getestet.
Durchschnittlich zwei Millionen Menschen suchen täglich auf der Dating-App Tinder nach der grossen Liebe - oder zumindest nach einem spannenden Zeitvertreib. Jeden Tag werden 350 Millionen Profile anderer Flirtwilliger angeschaut und in die Kategorien «Like» oder «Nope» eingeteilt. Die im September 2012 in Kalifornien veröffentlichte Applikation erfreut sich vor allem im angelsächsischen Raum grosser Beliebtheit. Die exakten Nutzerzahlen wollen die Gründer Sean Rad und Justin Mateen nicht verraten. Jeden Tag sollen aber 10'000 bis 20'000 neue User dazukommen. Dieses Jahr ist die Tinder-Welle nach Europa übergeschwappt. 20 Minuten hat die App, die beim Kennenlernen von Leuten in der Nähe helfen soll, im Selbstversuch getestet.
Tinder ist kostenlos für iPhones und Android-Smartphones erhältlich. Um sich auf den virtuellen Dating-Markt zu begeben, muss man über ein Facebook-Profil verfügen. Das Profilbild wird auch gleich als Anzeigebild für Tinder verwendet. Zusätzlich zum Profilbild aus Zuckerbergs Netzwerk werden weitere Fotos aus dem sozialen Medium hochgeladen. Die Porträts oder Ganzkörperaufnahmen können in einem zweiten Schritt manuell angepasst werden. So sollen sich die App-Nutzer einen besseren Eindruck von potenziellen Partnern machen können. Die eigenen Bilder kann man allerdings nur aus seinem Facebook-Konto auswählen, nicht aber aus der Galerie auf dem Smartphone. Angezeigt wird den anderen Nutzern der richtige Vorname und das Alter. Ausserdem werden gemeinsame Interessen oder Facebook-Freunde der beiden zu Verkuppelnden angegeben. Es kann zudem eingestellt werden, wie weit der Flirtpartner entfernt sein soll, welche Altersspanne in Frage kommt und natürlich welches Geschlecht er haben soll. An dieser Stelle muss noch angemerkt werden, dass sich die App grösstenteils an junge Erwachsene richtet: 54 Prozent der Nutzer sind zwischen 18 und 24 Jahren alt.
Männer zeigen sich weniger wählerisch
Die Publikation von Namen, Alter, Wohnort, Interessen und allfälligen gemeinsamen Freunden unter dem Profilbild ist insbesondere durch die geografische Nähe zu den anderen Usern etwas heikel. Die Chance, auf jemanden zu treffen, den man schon von der Schule, Arbeit oder der Freizeit kennt, ist gross. Für Schüchterne mag das ja toll sein, kann man doch jemanden «liken», ohne dass der oder die nicht interessierte Auserwählte das mitbekommt. Ist die Anziehung nicht gegenseitig, erfährt ausser dem Verschmähten niemand von der Sache. Wahrscheinlich nutzen deutlich mehr Männer als Frauen die Dating-App. Vertreterinnen des schwachen Geschlechts mit einem auch nur einigermassen passablen Äusseren erhalten deswegen wohl von beinahe jedem männlichen Nutzer ein «Like».
Wie bei jedem Online-Kennenlern-Service besteht auch bei Tinder die Gefahr negativer Auswirkungen auf das Arbeits- und Sozialleben. Wenn man plötzlich den verheirateten Chef auf der Dating-Plattform entdeckt, sind unangenehme Situationen am Arbeitsplatz programmiert. Auch das Auftauchen des eigenen Partners unter den potenziellen neuen Bekanntschaften führt zu Erklärungsbedarf. Diese Problematik besteht zwar bei jedem Flirt-Dienst, doch bei Tinder ist es nicht möglich, sich mit einem Pseudonym in den Dating-Dschungel zu stürzen. Andererseits basiert so das Kennenlernen auch eher auf Ehrlichkeit als dies bei anderen Angeboten der Fall ist. Denn bei 16 gemeinsamen Freunden kann schlechter über berufliche Positionen oder den momentanen Zivilstand gelogen werden.
Nur Nachrichten bei gegenseitigem Einverständnis
Ein Pluspunkt für Tinder ist, dass die geteilten Interessen und Bekannten den Gesprächseinstieg erleichtern. Klar ergeben sich manchmal im Tram mit dem hübschen Gegenüber unterhaltsamere Diskussionen als im Chat einer Dating-App, aber immerhin ist ein Gespräch über TV-Sendungen oder Sport besser als Standard-Aufreissersätze in der Disco. Ebenfalls positiv bewertet werden kann die Tatsache, dass einen andere User nur anschreiben können, wenn sich beide «geliked» haben, also ein sogenanntes «Match» zustande gekommen ist. Somit wird eine unnötige Nachrichtenflut vermieden.
Tinder ermutigt die User, die sich beide sympathisch finden, mit den Worten «Warum sagst du nicht einfach Hallo?» dazu, die Initiative zu ergreifen. Die im Test entstandenen Konversationen waren jedoch auch nicht unbedingt spannender als die gewohnten Anmachsprüche im Ausgang. Wird bereits nach wenigen Nachrichten nach einem Treffen verlangt, macht das wenig Lust, das Gespräch fortzusetzen. Dabei sind reale Treffen nach dem Kennenlernen mithilfe der kalifornischen App relativ selten: Nur 20 Prozent der Nutzer verabreden sich tatsächlich mit einem ihrer Gesprächspartner. Bei herkömmlichen Dating-Webseiten sind es knapp zwei Drittel.
Eigenen Marktwert testen
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Tinder zwar durchaus unterhaltsam ist, aber wohl für niemanden geeignet wäre, der tatsächlich die grosse Liebe im Netz sucht. Dass 96 Prozent der Tinder-Nutzer zum ersten Mal online Bekanntschaften machen, spricht dafür, dass die kalifornische App eher eine Spielerei ist. Gemäss dem Wirtschaftsmagazin «Forbes» dient die Smartphone-Applikation eher dazu, den eigenen Marktwert kennenzulernen, als sein Herz zu verschenken. Solange man sich dessen bewusst ist und nicht allzu hohe Ansprüche an einen Flirt oder ein Kennenlerngespräch hat, kann Tinder Spass machen.