Big Brother ist blind

Aktualisiert

VideoüberwachungBig Brother ist blind

Nirgendwo gibt es so viele Videokameras im öffentlichen Raum wie in Grossbritannien. Doch deren Effizienz ist gering: Kriminelle haben längst den Respekt vor der Überwachung verloren.

von
Daniel Huber

1949 veröffentlichte der britische Schriftsteller George Orwell seine Schreckensvision des totalen Überwachungsstaates: «1984» wurde zur einflussreichsten Dystopie des 20. Jahrhunderts und der Begriff «Big Brother» ging – lange, bevor uns die Segnungen des Reality-TVs beglückten – in den Alltagswortschatz ein.

Eine Kamera für vierzehn Briten

Heute ist Orwells Heimat das Land mit der weltweit höchsten Dichte an Überwachungskameras. Mehr als 4,2 Millionen sind es nach Schätzungen des britischen Innenministeriums; etwa eine auf 14 Einwohner. Das Kamerasystem CCTV (Closed Circuit Television) erfasst einen Passanten, der sich einen Tag lang durch London bewegt, durchschnittlich 300 Mal.

Diese Datenflut kostet: In den letzten zehn Jahren hat das britische Innenministerium mehr als drei Viertel seiner gesamten Ausgaben für Kriminalprävention in den Ausbau und Unterhalt des Kamerasystems gesteckt, wie eine neue Studie der Campbell Collabaration belegt. Allein zwischen 1999 und 2001 machte die britische Regierung 170 Millionen Pfund (über 300 Millionen Franken) für die Kameras locker.

«Völliges Fiasko»

Solchen Investitionen sollte ein entsprechender Ertrag gegenüberstehen. Genau dies scheint nicht der Fall zu sein: Schon vor gut einem Jahr beklagte sich Mike Neville, der Chef der für Video-Überwachung zuständigen Abteilung von Scotland Yard, die teuren Kameras seien ein «völliges Fiasko». Kriminelle hätten schon längst keinen Respekt mehr vor den Kameras und die Polizei ertrinke in der Bilderflut. Das beschämende Resultat: In London, der bestüberwachten Metropole Europas, werden nur gerade drei Prozent aller Raubüberfälle auf offener Strasse aufgrund der Video-Überwachung aufgeklärt. «Milliarden von Pfund wurden für die technischen Ausrüstungen ausgegeben», klagte Chefinspektor Neville, «doch es wurde kaum ein Gedanke darauf verwendet, wie die Polizei die Aufnahmen auswerten muss und wie sie vor Gericht verwendet werden können.»

Die Studie der Campbell Collabaration, die im Auftrag des Innenministeriums 44 wissenschaftliche Untersuchungen überprüft und zusammengefasst hat, ist immerhin zum Ergebnis gekommen, dass die Überwachungskameras die Kriminalität tatsächlich reduzieren, allerdings nur geringfügig. Der Effekt ist am grössten in Parkhäusern, und zwar vor allem dann, wenn die Videoüberwachung mit verbesserter Beleuchtung verbunden wird. Die Kriminalitätsrate fällt dann auf die Hälfte. Möglicherweise sind jedoch noch andere Faktoren an diesem Erfolg beteiligt. So dürften die Massnahmen den Eindruck verstärken, man kümmere sich um die Gegend.

Kein Rückgang der Gewaltverbrechen

Gewaltvergehen, die oft herangezogen werden, um die Installation von Kameras zu rechtfertigen, werden durch die Überwachung hingegen nachweislich nicht reduziert. Zudem besteht stets die Gefahr, dass sich das kriminelle Geschehen einfach in nicht überwachte Gegenden verlagert. Ähnlich enttäuschend war das Ergebnis einer bereits 2005 vom britischen Innenministerium durchgeführten Studie. Dreizehn Überwachungssysteme an Orten mit hoher Kriminalitätsrate wurden vier Jahre lang überprüft. Resultat: Nur in zwei Fällen war ein signifikanter Rückgang der Straftaten zu verzeichnen.

Möglicherweise, so argumentieren manche Befürworter der Videoüberwachung, liegen die bescheidenen Resultate einfach daran, dass die Technik noch nicht präzise genug ist. Auch die Kritik von Neville zielt in diese Richtung: Der Chefinspektor will eine Datenbank aufbauen, die den Austausch und Abgleich von Bildern und Informationen erleichtern soll. Und im Internet soll vermehrt mit Bildern nach Verbrechern gefahndet werden. Manche Fahnder träumen davon, die Videoüberwachung im öffentlichen Raum mit einer Software zur Gesichtserkennung zu kombinieren. Damit dürfte Orwells Vision der Realität wieder einen Schritt näher gekommen sein.

Videoüberwachung

Beim Einsatz von CCD-Farbkameras ist eine zunehmende Digitalisierung der Aufnahmen mit immer höheren Auflösungen zu verzeichnen. Moderne Kameras haben Schwenk-, Neige-, und Zoom-Technik sowie spezifische Einstellungen für schwarz-weiss, Farbe und Infrarot. Mittels DOME-Technologie können gewisse Bildbereiche ausgeblendet werden; etwa wenn private Bereiche eingesehen werden könnten. Die digitalen Bilddaten lassen sich auf Festplatten speichern und über weite Entfernungen übertragen. Auch die Steuerung der einzelnen Kameras kann so aus der Distanz erfolgen.

Die Auswertung der gespeicherten Bilddaten kann zur Erstellung von Fahndungsbildern, zur Identitätsbestimmung oder zur strafrechtlichen Verfolgung dienen. Damit ist Videoüberwachung nicht nur ein präventives, sondern auch ein repressives Instrument.

Die Videoüberwachung kann offen oder verdeckt erfolgen. Offen ist sie dann, wenn die Betroffenen problemlos erkennen können, dass der betreffende Bereich videoüberwacht wird, sei es durch Hinweisschilder oder die nicht zu übersehenden Überwachungskameras.

(Quelle: Krimlex.de)

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