Ewige Rache

Aktualisiert

Unvergessene EM-MomenteEwige Rache

Wenn Deutschland und die Niederlande im Fussball aufeinandertreffen, muss niemand motiviert werden. Die Rivalität der Nachbarn hat seit 1974 grosse Tradition.

von
Philipp Dahm

Der Hamburger Volkspark tobt. Lothar Matthäus liegt leidend am Boden, als Oranjes Goalie Hans van Breukelen ihn anbrüllt: «Ich hoffe, dass du fucking stirbst.»

Es ist der 21. Juni 1988: Im Halbfinale zwischen EM-Gastgeber Deutschland und den Niederlanden steht es 1:1, nachdem beiden Teams ein Penalty zugestanden worden war. Matthäus hatte die DFB-Elf nach einem fragwürdigen Foul in Führung geschossen, Ronald Koeman glich in der 74. aus elf Metern aus. 56 150 Zuschauer stellen sich bereits auf eine Verlängerung ein, als Marco van Basten in der 88. Minute Verteidiger Jürgen Kohler düpiert und den Siegtreffer markiert. Kurz darauf ist Schluss: Zum ersten Mal seit 1956 verlieren die Deutschen gegen ihren Nachbarn.

«Diese widerwärtigen Deutschen»

Siegtorschütze Van Basten freut sich über ein «wunderbares Gefühl, besonders weil wir auf dem Weg ins Finale diese widerwärtigen Deutschen rausgeworfen haben», wie der Experte und Buchautor Simon Kuper protokolliert. Mit leerem Blick tauscht Olaf Thon sein Trikot mit Ronald Koeman, der es nimmt und so tut, als würde er sich damit den Hintern abwischen. Während das Publikum wütet, basteln Redaktoren der «Telegraaf» an der Überschrift: «Endlich Rache».

Überraschend rabiat: Dieser kurze Clip veranschaulicht die Rivalität zwischen Deutschen und Holländern anschaulich. (Quelle: YouTube)

Kriegsgeheul bei der «Schlacht von München»

Woher kommt dieser Hass, der sich da entladen hat? Die Rivalität beginnt mit dem 7. Juli 1974. Die Niederlande sind bis dato ein Fussball-Zwerg, der sogar gegen Luxemburg Federn lassen musste, und haben sich endlich mal wieder für ein Turnier qualifiziert, weil Rinus Michels dem Team neues Leben einhauchte. Der Bondscoach, wie der Bundestrainer in Holland heisst, stellt auf die neuartige Raumdeckung um, mit der er bei Ajax Amsterdam Sieg um Sieg im Wettbewerb der Landesmeister eingefahren hatte.

Nach einer mässigen Qualifikation brilliert die Mannschaft um ihren Lenker Johan Cruyff: In der zweiten Finalrunde, die sich damals an die Vorrunde anschliesst, werden die DDR (2:0), Argentinien (4:0) und Brasilien (2:0) aus dem Weg geräumt. Vor dem Finale spricht Bondscoach Rinus Michels, der den Hungerwinter von 1944/1945 als 17-Jähriger erlebt hat, von der «Schlacht von München», wo er «totalen Fussball» spielen wolle. Doch es kommt anders: Nachdem Bernd Hölzenbein im Strafraum gefallen ist, gleichen die Deutschen zum 1:1 aus. Gerd Müller markiert noch vor dem Pausentee den Siegtreffer.

«Der Hass, er war immer da»

«Das hat damit zu tun, dass wir damals in Holland nicht nur diese Spiele der WM gewannen, sondern wir dachten, dass wir der ganzen Welt zeigen, wie es sich gehört», erklärt Auke Kok in einem Interview. Er hat das Buch «Wir waren die Besten» geschrieben, das sich allein um das Turnier 1974 dreht. «Sie müssen bedenken, dass Holland seit 1938 nicht mehr an einem solchen Turnier teilgenommen hatte.»

Der niederländische Aussenstürmer Johnny Rep sagte nach dem Turnier zwar, dass der Zweite Weltkrieg in der Kabine nie ein Thema gewesen sei. Doch Mittelfeldmann Willem van Hanegeem meinte: «Der Hass, er war immer da. Er hat Hintergründe, die jeder kennt und die noch nicht vergangen sind. Ich würde es bis an mein Lebensende nicht verwinden, wenn wir es nicht schafften zu verhindern, dass sie später grölen könnten, sie seien Weltmeister – und wir nicht.» Er weinte nach dem Abpfiff.

Das Trauma von 1974

Die Niederlage hat schwerwiegende Folgen für die Holländer. «Wir hatten als Fans 1974 Hollands goldene Fussballgeneration bewundert und gleichzeitig getrauert: Wir waren doch damals gegen Deutschland die Besseren – und haben trotzdem verloren», erinnert sich der spätere Goalie Hans van Breukelen. Die Schriftstellerin Anna Enquist fasste zusammen: «1974 hat ein tiefes, noch unbewältigtes Trauma hinterlassen. Es ist ein sehr akuter Schmerz, wie von einem ungesühnten Verbrechen.»

Das Klima ist seit diesem Gipfel von 1974 vergiftet. Bei der EM 1976 in Jugoslawien verpassen sich die Teams im Halbfinale (Holland scheitert an der Tschechoslowakei), doch bei der WM 1978 treffen die Rivalen wieder aufeinander. Mittelfeld-Mann Dick Nanninga boxt Bernd Hölzenbein, der seit 1974 in Den Haag als Inbegriff des Schwalbenkönigs gilt, in den Magen. Der Deutsche fasst den Gegner an der Nase, doch nur Nanninga sieht Gelb und fliegt in der 88. Minute vom Platz. Das Spiel endet 2:2, womit Deutschland ausgeschieden ist. Auch im Duell bei der EM 1980 geht es hart her: Johnny Rep tritt Goalie Toni Schumacher in den Magen, doch am Ende siegen die Deutschen.

1988: «Ein Gefühl, das viel mehr war als nur Rausch»

Die Welt- und Europameisterschaften zwischen 1982 und 1986 finden ohne Oranje statt. Kein Wunder also, dass das Team von Rinus Michels heiss auf eine Revanche war, als sie 1988 in Hamburg antraten. «Jetzt hatten wir endlich die Gelegenheit, das Gezeter von Cruyff und Co. zu widerlegen. Denn die haben nie gegen Deutschland gewonnen. Deshalb waren wir so motiviert», sagt Goalie Hans van Breukelen. Lothar Matthäus wird deutlicher: «Vor 20 Jahren waren das Hassspiele.»

In den letzten zehn Minuten der Partie anno 1988 klingelt es zweimal im deutschen Kasten. (Quelle: YouTube)

Umso grösser war die Befriedigung über den Sieg: «Ein Gefühl, das viel mehr war als nur Rausch. Es war eine Rache für, wie wir dachten, das Unrecht von 1974, und sehr weit im Hintergrund spielte auch noch der Zweite Weltkrieg eine Rolle», erläutert Auke Kok. Van Breukelen und Kollegen feierten die Revanche und «gingen tanzen in eine Hamburger Diskothek, zusammen mit den Spielerfrauen». Vor Oranjes Finale in München sagt ein Fan: «Das heutige Spiel zählt nicht. Für mich ging es nur darum, die Deutschen zu schlagen.» Dennoch holt sein Team den Titel.

Völler und Rijkaard: Alles in Butter

Im Achtelfinale der WM 1990 kocht die alte Rivalität wieder hoch, als Frank Rijkaard Gegenspieler Rudi Völler anspuckt. Dabei hat der Niederländer gar keine grossen Probleme mit Germanen, sondern mit seiner Ehefrau und der eigenen Mannschaft. Während es nach dem Match an der Grenze zwischen den beiden Ländern zu Ausschreitungen kommt, begraben die Spieler ihr Kriegsbeil schnell wieder.

Frank Rijkaard gibt Rudi Völler 1990 etwas mit auf den Weg. (Quelle: YouTube)

«Frank hat durch diese Aktion mehr gelitten als ich», sagte «Tante Käthe» Völler später über den Vorfall. «Die Sache ist mittlerweile gegessen. Wir haben uns auf Schloss Lerbach bei einem Frühstück wieder vertragen und pflegen ein ganz normales Verhältnis.» 1995 machen Völler und Rijkaard gar zusammen Werbung für einen niederländischen Butter-Hersteller.

Keine Reue

Und was ist mit Ronald Koemans Trikot-Aktion? Ausgerechnet Olaf Thons Hemd wurde zum Klopapier: «Wenn es einen Spieler auf deutscher Seite gab, der kein ‹typischer Kraut› war, dann Olaf Thon», bestätigt Auke Kok. «Er würde keiner Fliege was zuleide tun.» Koemans Vater Martin, ebenfalls ein Kicker, rügte seinen Filius: «Das war vollkommen unnötig. Du kannst nicht tollen Fussball spielen, gewinnen und dich dann auf so ein tiefes Niveau begeben.»

Ronald selbst sagt laut Auke Kok vier Tage nach dem Match: «Ich weiss zwar, dass ich es nicht hätte tun sollen. Aber zu sagen, dass ich es bereue…Nein, nicht wirklich.»

Immer für ein Attentat gut. Ein Holländer bringt eine Parkkralle am Mannschaftsbus der Deutschen an. (Quelle: YouTube)

«Das kleine ABC des Holländerärgerns». (Quelle: YouTube)

Das passiert nach niederländischer Meinung, wenn man «Schade, Holland, alles ist vorbei» singt. (Quelle: Dumpert.nl)

Niederländische Parodie auf Deutschland. (Quelle: YouTube)

Der deutsche Volkswagen-Konzern wirbt heutzutage in den Niederlanden mit der Rivalität. (Quelle: YouTube)

Das gilt auch für «McDonald's». (Quelle: YouTube)

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