Als sich Deutschland vor der EM drückte

Aktualisiert

Unvergessene EM-MomenteAls sich Deutschland vor der EM drückte

Die Begeisterung für die erste Europameisterschaft 1960 hielt sich in engen Grenzen: Grosse Fussballnationen liessen das Turnier links liegen. Schon der Weg zur ersten Endrunde war steinig gewesen.

J.-C. Gerber
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J.-C. Gerber

Die Fussball-Europameisterschaft gilt heute nach den Olympischen Spielen und der Fussball-WM als drittgrösstes Sportereignis des Planeten. Dabei waren ihre Anfänge alles andere als vielversprechend. 1927 wurde sie von Henri Delaunay, dem Generalsekretär des französischen Verbands, erstmals angedacht. Doch es sollte bis 1960 dauern, bis erstmals eine Endrunde ausgerichtet werden konnte.

Die Begeisterung für das neue Turnier war alles andere als überschäumend. Grosse Fussballnationen liessen das Turnier links liegen und den Final im Pariser Parc des Princes wollten gerade einmal 18 000 Zuschauer sehen – wahrlich kein grandioser Start.

Doch fangen wir von vorne an: Nachdem England und Schottland 1872 das erste offizielle Länderspiel ausgetragen hatten, dümpelte der internationale Fussball in Europa für Jahrzehnte vor sich hin. Länderspiele waren reine Prestigeduelle mit wenig Aussagekraft über die wahren Kräfteverhältnisse auf dem Kontinent. Lediglich an den Olympischen Spielen konnten sich Fussballer ab 1908 auf internationaler Ebene messen. Die immer stärkere Professionalisierung im Fussball war aber langfristig mit dem olympischen Gedanken nicht vereinbar. Das Turnier, bei dem die Schweiz 1924 Silber holte, war keine Alternative zu einer internationalen Fussballmeisterschaft.

Diesen Schwebezustand wollte Henri Delaunay beenden und schlug deshalb 1927 die Schaffung einer kontinentalen Meisterschaft vor. Doch 27 Jahre vor der Gründung des europäischen Fussballverbands hatte seine Idee bei der Fifa keine Chance. Der Weltfussballverband konzentrierte seine Kräfte zu dieser Zeit auf die Schaffung einer Weltmeisterschaft für Profispieler, die schliesslich 1930 in Uruguay erstmals ausgetragen wurde.

Der Europapokal

Die Ambitionen der Länder, die damals den Fussball auf dem Kontinent dominierten, konnte eine nur alle vier Jahre stattfindende WM allerdings nicht befriedigen. Österreich, Ungarn, die Tschechoslowakei und Italien, die ab 1924 Profiligen eingeführt hatten, brauchten regelmässige internationale Pflichtspiele, um ihre Spieler zu bezahlen. Und so beschlossen diese Länder im Juli 1927 in Venedig die Einführung des Europapokals der Fussball-Nationalmannschaften. Bereits zwei Monate später begann der neue Wettbewerb, an dem neben den Gründernationen auch die Schweiz teilnahm. Bis zum 11. Mai 1930 wurde im Meisterschaftsmodus mit Hin- und Rückspielen der erste Pokalsieger ermittelt. Italien triumphierte, während die Schweiz mit acht Niederlagen in acht Spielen am Schluss der Tabelle landete.

In der Folge wurde der Wettbewerb noch fünf Mal ausgetragen, wobei die vierte Ausgabe nach der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich im März 1938 abgebrochen werden musste. Für die letzte Austragung des Wettbewerbs von 1955 bis 1960 vervollständigte Jugoslawien das Teilnehmerfeld. Italien gewann einen weiteren Pokal, während Österreich, Ungarn und die Tschechoslowakei je einmal gewannen. Die Schweiz wurde immer Letzte.

Die Gründung der UEFA als Durchbruch

Als im Januar 1960 das letzte Spiel des Europapokals ausgetragen wurde, war das Ende des Formats längst besiegelt. Fünfeinhalb Jahre zuvor hatten sich die Fussballverbände Europas endlich dazu durchgerungen, einen Kontinentalverband zu gründen, und Henri Delaunay als dessen Generalsekretär gewählt. Dieser liess keine Zeit verstreichen und setzte seine alte Idee einer Europameisterschaft zuoberst auf die Traktandenliste. Doch wieder fiel es den Landesverbänden schwer, sich zu einigen. Es dauerte drei weitere Jahre, bis sie die Durchführung einer EM beschlossen. Delaunay war es nicht mehr vergönnt, den Durchbruch seiner Idee mitzuerleben – er hatte 1955 das Zeitliche gesegnet.

Die einzelnen Verbände hatten nun bis zum 15. Februar 1958 Zeit, ihre Mannschaften für das Turnier zu melden. Das Interesse war gering. Am Stichtag standen lediglich fünfzehn Namen auf der Teilnehmerliste. Westdeutschland, Italien und sämtliche britischen Verbände verzichteten auf eine Teilnahme. Der deutsche Trainer Sepp Herberger liess ausrichten, dass er die Zeit zwischen Weltmeisterschaften nicht verschwenden wolle. Um das Turnier doch noch zu retten, verlängerte die UEFA den Meldeschluss, bis schliesslich doch noch 17 Mannschaften zusammenkamen. Die EM konnte beginnen.

In zwei Jahren zum Final

Am 28. September 1958 fand mit der Begegnung Sowjetunion gegen Ungarn das erste Achtelfinal statt, das der Gastgeber mit 4:1 gewann. Es dauerte beim Modus mit Hin- und Rückspiel mehr als ein Jahr, bis mit der Tschechoslowakei nach deren Sieg über Dänemark der letzte Viertelfinalist feststand. Zuvor mussten die SSR und Irland Anfang 1959 noch in einer Barrage letzten den Achtelfinalplatz untereinander ausmachen.

Die Viertelfinals nahmen ihrerseits wieder ein halbes Jahr in Anspruch, wobei die Begegnungen von Spanien gegen die Sowjetunion dem Kalten Krieg zum Opfer fielen. Da Spaniens Diktator Franco seinem Team die Einreise in die Sowjetunion verbot, wurde die Sbornaja am grünen Tisch zum Sieger erklärt. Am 29. Mai 1960 waren schliesslich alle Teilnehmer der Finalrunde ermittelt. Es waren dies Frankreich, Jugoslawien, die Tschechoslowakei und die Sowjetunion.

Mit dem Halbfinal nahm die erste Europameisterschaft die Form einer Endrunde an, wie sie heute üblich ist. Während die bisherigen Partien des Wettbewerbs in den einzelnen Ländern stattfanden, kamen die verbliebenen Mannschaften nun für die Finalspiele in Frankreich zusammen. Am 6. Juli 1960 ging es los. In Marseille schlug die UdSSR die SSR und in Paris setzte sich Jugoslawien gegen den Gastgeber durch. Und damit war die Luft aus dem Turnier draussen. Zum Spiel um den dritten Platz erschienen im Stade Vélodrome nur noch 9438 Zuschauer, während im Parc des Princes 18 000 Fans den Gewinn des Henri-Delaunay-Pokals durch die Sowjetunion verfolgten.

So lange wie es dauerte, die Europameisterschaft auf die Beine zu stellen, so bescheiden war der Erfolg der ersten Austragung. Und doch wurde 1960 mit dem kleinen Turnier in Frankreich die Keimzelle für die grösste europäische Sportveranstaltung gelegt. Henri Delaunays Traum war endlich Wirklichkeit geworden.

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