Unvergessene EM-MomenteSpaniens Erlösung
Lange Zeit versagte Spaniens Nationalmannschaft trotz überragender Spieler bei grossen Turnieren. 2008 gelang es ihnen, diesen Fluch zu überwinden.
Man musste schon ein dickes Fell haben, wenn man Fan der spanischen Nationalmannschaft war. «Im Fussball zählen nur Tore!» «Es gibt keinen Schönheitspreis zu gewinnen!» «Die Spanier müssen endlich Effizienz lernen!» Mit derartigen Weisheiten wurde man von den «Realos» (vorzugsweise Italienfans) jeweils eingedeckt, wenn die Spanier wieder einmal ausgeschieden waren, obwohl sie eigentlich deutlich besser als der Gegner gespielt hatten.
Es war wirklich zum Verzweifeln: Dieselben Spieler, die mit ihren Vereinen regelmässig grosse Erfolge feierten, versagten trotz brillanten Spiels ebenso regelmässig, sobald sie das Trikot der «Roten Furie» (so nennt man die Nationalmannschaft in Spanien) trugen. Entweder scheiterten sie im Elfmeterschiessen (WM 1986, EM 1996, WM 2002), oder sie schlugen sich durch haarsträubende Fehler in der Abwehr oder im Abschluss quasi selbst (EM 1984, WM 1994, EM 2000, WM 2006). Spätestens im Viertelfinal endeten die Turniere für die Spanier.
Regionalismus und unfähige Trainer
Wie war das zu erklären? Ebenso wie ihre Fans würden sich die spanischen Spieler vielmehr mit ihren Klubs als mit dem Nationalteam identifizieren, meinten die einen. Bei den separatistisch gesinnten Katalanen und Basken komme noch hinzu, dass die Nationalmannschaft den seit Francos Zeiten verhassten Zentralstaat repräsentiere, was ihre Leistungsbereitschaft nicht unbedingt fördere. Doch warum spielten sie dann überhaupt mit?
Einen anderen Erklärungsansatz wählte der Schriftsteller Javier Marías, ein glühender Anhänger von Real Madrid: Den spanischen Spielern fehle es an Ehrgeiz und Siegermentalität, die Trainer seien nicht sehr intelligent, und das Spiel der Mannschaft habe eine gewisse «Unschärfe». Bei allem Respekt vor Marías: Besonders erhellend schienen mir auch diese Ausführungen nicht zu sein.
Die Wende gegen Italien
Dann begann im Juni 2008 die Europameisterschaft in der Schweiz und Österreich. Die spanische Auswahl hatte mit dem bärbeissigen Luis Aragonés zwar wieder einmal einen etwas merkwürdigen Trainer, doch sie war mit so vielen Klassespielern gespickt, dass ein erfolgreiches Abschneiden fast unvermeidlich schien. Sollten sie wieder scheitern, würden sie wohl eine Gruppentherapie (und ich eine neue Mannschaft) brauchen.
Gewohnt souverän marschierten sie durch die Vorrunde, doch im Viertelfinal wartete ausgerechnet Italien, ein Gegner, gegen den Spanien seit 1920 an Turnieren immer gescheitert war. Mit ihrem unspektakulären, aber geradezu preussisch disziplinierten und gnadenlos effizienten Spiel stellten die «Azzurri» gewissermassen den Gegenentwurf zu Spanien dar.
Das Verhängnis schien wieder einmal seinen Lauf zu nehmen: Nach 16 Minuten verweigerte der deutsche Schiedsrichter Herbert Fandel den Spaniern einen Penalty, den selbst ZDF-Experte Urs Meier, ansonsten ein nervtötend konsequenter Verteidiger seiner Ex-Kollegen, gepfiffen hätte. Spanien war deutlich überlegen, biss sich aber immer wieder an der italienischen Abwehrmauer fest. Wenig überraschend stand es nach 120 Minuten 0:0, das Elfmeterschiessen musste entscheiden. Ein Freund, ebenfalls Spanienfan, mit dem ich das Spiel geschaut hatte, verliess wütend das Zimmer, es werde sowieso wieder schiefgehen. Doch ich blieb optimistisch, denn Buffon war zwar ein Klassetorhüter, aber nicht unbedingt ein Elfmeterkiller. Tatsächlich entschärfte Iker Casillas die Schüsse von De Rossi und Di Natale, Cesc Fàbregas verwandelte den letzten Penalty für Spanien. Die «Bestia Negra», der Angstgegner, war besiegt.
Video: Das Penaltyschiessen Spanien – Italien am 22. Juni 2008 in Wien
(Quelle: Youtube/juanaguayo92)
Der Triumph
Nun spielten die Spanier befreit auf: Im Halbfinal wurde Russland mit einer atemberaubenden Leistung 3:0 vom Platz gefegt, im Endspiel gelang ein 1:0-Sieg gegen Deutschland, der deutlich höher hätte ausfallen müssen. Als Kapitän Casillas am Abend des 29. Juni die EM-Trophäe in den Wiener Nachthimmel reckte, wusste ich: Der Fussballgott gönnt sich zwar gelegentlich eine Auszeit - etwa wenn er Chelseas Fussballverhinderung mit dem Gewinn der Champions League belohnt -, aber er existiert - immerhin.