«Staatsbankrott», Teil IDie fast unaufhaltbare Schuldenspirale
Staatsbankrotte sind nicht neu, sie sind fast so alt wie die Menschheit. Bürokratie und Wohlfahrt bildeten stets den Auftakt für den wirtschaftlichen Niedergang. Besiegelt wurde er meist durch verlorene Kriege.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts bauten die Industrieländer Europas und Nordamerikas ihre Steuersysteme zügig aus. Die Einkommenssteuer setzte sich von England aus überall durch. Zugleich wurden indirekte Steuern und spezifische Verbrauchssteuern eingeführt. Den Zöllen auf Industrieprodukte kam eine rasch wachsende Bedeutung zu. Die wirtschaftliche Expansion im Früh- und Hochkapitalismus erzeugte sozusagen automatisch zusätzliche Einnahmen, die den finanziellen Handlungsspielraum massiv verbesserten.
Zwar gab es damals zahlreiche Kriege, sie fielen aber finanziell nicht so schwer ins Gewicht und konnten meist verkraftet werden. Obwohl sie vorwiegend mit Kredit finanziert wurden, kam es zu (relativ) wenigen Staatsbankrotten, denn die kriegsbedingte Inflation hatte eine massive Entwertung der Staatsschulden zur Folge. Staatsbankrotte spielten sich vor allem in Südeuropa, auf dem Balkan, in der Türkei und in Nordafrika ab. Dazu kamen schon damals Mittel- und Südamerika mit zahlreichen Pleiten.
Grenzen des Steuerstaates
Die Steuerbelastung ist langfristig massiv angestiegen, sie kennt keine Grenzen und hat noch einen anderen Nebeneffekt: Negative Steuerwirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung werden vernachlässigt und Warnungen in den Wind geschlagen. Man argumentiert stets mit dem wachsenden Staatsbedarf und mit der «Steuergerechtigkeit», um der Expansion einen sozialen Anstrich zu vermitteln. In der Regel treten jene für «mehr Gerechtigkeit» ein, die selbst unterdurchschnittlich oder gar keine Steuern bezahlen, zugleich aber am meisten von staatlichen Leistungen aller Art profitieren. Auf Dauer kann diese Rechnung für keinen Staat aufgehen.
Je höher die direkten, progressiven und die ertragsunabhängigen Steuern sind, desto mehr leiden die positiven Anreize. Es lohnt sich immer weniger, sich auszubilden, zu arbeiten, zu forschen, innovieren und investieren. Es erstaunt deshalb nicht, dass Volkswirtschaften zunehmend an Wachstumsdynamik verlieren. Sie sind auf dem Wege in die Stagnation, den Abstieg und sogar in den ökonomischen Niedergang. Gelingt es ihnen nicht rechtzeitig, sich nach marktwirtschaftlichen Regeln zu «revitalisieren», so ist auf Dauer Hopfen und Malz verloren. Das ist eine jahrhundertelange historische Erfahrung.
In dem Masse, wie die wirtschaftliche Dynamik anhaltend nachlässt und in die Stagnation mündet, antwortet der Staat mit einer beschleunigten Verschuldung, denn er findet keine Wählermehrheit für einen Abbau von Staatsleistungen im Allgemeinen und Sozialausgaben im Besonderen. Operiert der Staat auch noch mit Sondersteuern zu Lasten von «reichen Personen» und Unternehmen, ist er auf dem Wege, die Volkswirtschaft zu ruinieren. Im Zuge dieser Entwicklung gerät er immer mehr in die Schuldenfalle, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Den krönenden Abschluss bildet der Staatsbankrott.
Grenzen der staatlichen Verschuldung
Schuldzinsen und Tilgungen müssen aus dem Bruttoinlandprodukt (BIP) bestritten werden. Die Last ist umso grösser, je mehr sich der Staat verschuldet und je höher die Zinsen sind. Daher ist es sinnvoll und notwendig, den Schuldenstand zum jährlichen BIP in Beziehung zu setzen und daraus die Schuldenquote zu errechnen. Solange die Wirtschaft wächst, steigt die Steuerbelastung zugunsten der Zinsfinanzierung nicht unendlich, sondern nähert sich einem «fairly reasonable limit» (vernünftige Grenze). Entscheidend ist das reale Wachstum, also ob das reale BIP schrumpft, stagniert oder zunimmt. Auf das wirtschaftliche Wachstum kommt es an!
Hat man die Schuldenquote einzelner Länder vor sich, so stellt sich die Frage, welcher Prozentsatz am BIP «richtig» ist. Darauf gibt es a priori keine allgemeingültige Antwort. Was für den einen Staat tragbar ist, ist für einen anderen eine Bedrohung. In einem dritten Land kann die gleiche Verschuldung die Zahlungsunfähigkeit oder sogar den Bankrott bedeuten. Mithin sind zum Beispiel die Vorgaben in der Europäischen Währungsunion, nämlich 60 Prozent Schulden und 3 Prozent Defizit am BIP, nichts anderes als eine durchschnittliche Norm. Sie erlaubt keine Aussagen darüber, ob die Grenzen der Verschuldung in einzelnen Staaten erreicht oder gar überschritten wurden.
Grenzen im Schuldendienst
Zinsen und Tilgungen ergeben zusammen den Schuldendienst. Er ist die strategische Variable der Verschuldung. Die Grenzen sind spätestens dann erreicht, wenn Schuldner weder Zinsen zahlen noch fristgerecht tilgen können. Nun muss nach Auswegen aus der Schuldenkrise gesucht werden. So kommt es unter anderem zu vorübergehenden Moratorien; Schulden werden dominant nach Laufzeiten restrukturiert (die Rückzahlungsdauer wird verlängert). In der Regel pumpt man «frisches» Geld hinein, um jenen auf die Beine zu helfen, auf die man nicht verzichten möchte.
Wie funktioniert der Schuldendienst? Es ist nicht üblich, Schulden zu tilgen. Laufen Anleihen aus, so werden sie durch neue ersetzt (refundiert). Dieser Vorgang muss allerdings marktkonform erfolgen, wobei sich Zinsen und Laufzeiten nach den Währungen und dem allgemeinen Vertrauen in sie richten. Je schlechter das Rating eines Landes ist, desto höher sind die Zinsen und desto kürzer die Laufzeiten.
Der Staatsbankrott
Je kürzer die Laufzeit der Gesamtschulden ist, desto rascher nähert man sich dem Tag, ab dem die ganze Schuld in relativ wenigen Jahren fällig wird. Der Schuldner läuft definitiv auf einen Engpass in der Refundierung seiner Schulden zu und riskiert, dass die Anleihen nicht mehr voll gezeichnet werden. Im Extremfall findet er niemanden mehr, der die notwendigen Emissionen durchführt. In dieser Situation bleibt dem Staat nichts anderes übrig, als sich für tilgungsunfähig zu erklären und damit im Grunde genommen die erste Stufe des Staatsbankrotts zu verkünden.
Nun rückt der Zinsendienst in den Mittelpunkt. In dem Masse, wie sich die Bonität der Schuldner verschlechtert, müssen sie hohe und steigende Zinsen bieten, um sich weiter verschulden zu können. Das leitet meist eine Dynamik ein, die kaum zu bremsen ist. Die Zinsen schiessen über die nominelle Wachstumsrate des BIP hinaus, die Schulden nehmen zinsbedingt zu. Ist auch der Primärsaldo defizitär (Staatsausgaben liegen auch ohne Zinszahlungen höher als die Einnahmen – siehe Infobox), so zahlt der Staat einen wachsenden Prozentsatz seiner Zinsen über eine Neuverschuldung. Der Prozentsatz, den Zinszahlungen von den laufenden Einnahmen belegen, nimmt zu. Es bleibt immer weniger für andere Staatsausgaben übrig, der Handlungsspielraum schmilzt dahin.
Wenn es dann nicht gelingt, die Staatsausgaben kurzfristig radikal zu senken, um aus dem defizitären Primärsaldo herauszukommen, so steht der Staat unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit. Ein solcher Bankrott ist von weit grösserer Tragweite als die Unfähigkeit zu tilgen. Doch schon zuvor werden sich die Organe des Staates überlegen müssen, ob und wie er mit den in- und ausländischen Gläubigern umzugehen gedenkt.
Am grössten ist der Handlungsspielraum bei den inländischen Schulden. Der Staat kann eigenes Geld produzieren, Schulden über die Notenpresse und die daraus resultierende Inflation «weginflationieren» lassen, der krönende Abschluss wird durch eine Währungsreform gebildet. Um das alles zunächst zu vermeiden, kann sich der Staat des Zwangskredites bedienen: Er zwingt seine wohlhabenden Einwohner, Staatsanleihen zu kaufen und auch zu behalten.
Die historische Erfahrung zeigt, dass jeder Staat stets den Weg des geringsten Widerstandes geht. Er verschuldet sich immer wieder, um Ausgaben – unter Umgehung des Steuerwiderstandes – finanzieren zu können. Es gelingt ihm sogar regelmässig, mit wechselnden Argumenten Geldgeber von der Notwendigkeit und Nützlichkeit der Verschuldung zu überzeugen. In der Regel verschulden sich Staaten, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, bis zum Ruin. Daher gilt: Die Geschichte der öffentlichen Finanzen ist jene der Bankrotte. Sie reicht vom Altertum bis in die Gegenwart.
Lesen sie morgen im zweiten Teil der Auszüge aus Walter Wittmanns neustem Buch «Staatsbankrott», wie es um die offiziellen und versteckten Schulden in den OECD-Ländern steht.
Indikatoren für die Staatsverschuldung
Faustregel: In einer Rezession nimmt die Verschuldung als Reflex der wirtschaftlichen Entwicklung zu. Bildet sie sich im Laufe eines Aufschwungs nicht zurück, so ist eine erhöhte Alarmbereitschaft angesagt. Denn die Zusatzverschuldung ist nicht mehr konjunktureller, sondern struktureller und damit dauerhafter Natur.
Eine Frühindikation für überhöhte Staatsverschuldung liegt vor, wenn die Steuereinnahmen, ausgehend von einem Budgetüberschuss, langsamer als die
Ausgaben wachsen. Setzt sich diese Entwicklung fort, nehmen die Überschüsse ab und verwandeln sich schliesslich in Defizite, sie nehmen strukturellen Charakter an und bedürfen fundamentaler Reformen.
Ein anderer Frühindikator ist die Relation zwischen der prozentualen Veränderung der Zinsausgaben und jener der Steuereinnahmen. Solange die Zuwachsrate der Zinszahlungen unter jener der Steuereinnahmen bleibt, gilt eine zusätzliche Verschuldung als unbedenklich. Wächst der Zinsendienst schneller als die Stuereinnahmen und übertrifft in absoluten Zahlen den Zuwachs der Steuergelder, so werden die zusätzlichen Einnahmen in voller Höhe von zusätzlichen Zinszahlungen absorbiert. Es bleibt nichts für die Finanzierung zusätzlicher anderer Ausgaben übrig.
Ein dritter Frühindikator ist die Entwicklung der Relation zwischen öffentlichen Investitionen und den Defiziten. Nimmt der Überschuss der Investitionen laufend ab, so sind die Defizite bald einmal grösser als die Investitionen. Der Staat verschuldet sich dann für laufende Ausgaben, und aus einem Früh- wird ein Spätindikator, der anzeigt, dass der Haushalt entsprechend zu Lasten künftiger Generationen lebt.
Bei einem vierten Indikator geht es um das Verhältnis zwischen den Defiziten und dem freiwilligen Sparen der privaten Haushalte. Je ausgeprägter die Defizite die gesparten Gelder übertreffen, desto weniger werden öffentliche Investitionen über den Kapitalmarkt mit inländischen Ersparnissen finanziert. Zusätzliche Defizite können nur noch über den Import von Kapital bestritten werden, die Auslandsabhängigkeit nimmt entsprechend zu.
Ein fünftes Kriterium ist der Primärsaldo. Man klammert die Zinszahlungen auf die bestehenden Schulden aus und zieht diese von den laufenden Ausgaben ab. Diese zinsbereinigten Ausgaben werden zu den laufenden Einnahmen in Beziehung gesetzt. Sind diese Ausgaben kleiner als die Steuereinnahmen, so liegt ein positiver Primärsaldo vor. Ist er aber rückläufig oder gar negativ, so ist die Frage nach der Tragfähigkeit der Defizite im Allgemeinen und der gesamten Staatsschuld im Besonderen gestellt. Um darauf eine schlüssige Antwort geben zu können, sind zusätzliche Indikatoren einzuschalten.

Walter Wittmann ist emeritierter Wirtschaftsprofessor der Universität Fribourg und erfolgreicher Sachbuchautor. Er ist Verfasser einer vierbändigen Einführung in die Finanzwissenschaft sowie vieler kritischer Sachbücher. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Wittmann durch seine Auftritte in verschienenen Medien.
In einer vierteiligen Serie bringt 20 Minuten Online Auszüge aus Wittmanns im Mai 2010 bei Orell Füssli erschienen Buch Staatsbankrott.
Im selben Verlag erchienen: Finanzkrisen. woher sie kommen - Wohin sie führen - Wie sie zu vermeiden sind (2. Auflage 2009).