Furcht vor EntbehrungWenn der reiche Bruder nicht mehr zahlt
Hugo Chávez' Kampf gegen den Krebs wird nicht nur zu Hause, sondern auch in Kuba genau verfolgt. Der Inselstaat verdient die Hälfte seiner Devisen über Vorzugsgeschäfte mit Venezuela.

Schmeichelhafte historische Vergleiche: Eine Wandgemälde in einem Armenviertel in Caracas mit Hugo Chávez (links), Fidel Castro (rechts) und den Unabhängigkeitshelden Simon Bolivar und Jose Marti (Mitte).
Das hatten wir doch schon einmal, hintersinnen sich dieser Tage viele Kubaner. Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 die subventionierten Erdöllieferungen des grossen Bruderstaats plötzlich versiegten, erlebten sie lange Jahre der Entbehrung. Die von Fidel Castro euphemistisch als «Sonderperiode in Friedenszeiten» bezeichnete Wirtschaftskrise endete erst, als Venezuela 2000 begann, täglich 53 000 Fässer Erdöl an Kuba zu liefern. Möglich machte dies ein gewisser Hugo Chávez, passionierter Fan der kubanischen Revolution, der im Jahr zuvor zum Präsidenten Venezuelas gewählt worden war.
Eben dieser Chávez liess sich Mitte Juni überraschend in Kuba operieren und kehrte erst drei Wochen später nach Venezuela zurück. Aufgrund spärlicher Informationen zu seinem Gesundheitszustand kochte die Gerüchteküche in Caracas hoch. Inzwischen ist klar, dass ihm am 10. Juni eine Krebsgeschwulst aus der Beckenregion entfernt worden ist. Die Angst unter seinen Anhängern in Venezuela ist gross – und in Kuba nicht minder: Sollte Chávez den Kampf gegen den Krebs verlieren oder abgewählt werden, befürchten sie den Anbruch einer neuen «Sonderperiode».
Auch andere Länder hängen am Tropf Venezuelas
«Darüber möchte ich nicht einmal nachdenken, die Erinnerung an jene Zeiten macht mich sehr traurig», sagte die 50-jährige Mirta Flores aus Havanna der Nachrichtenagentur AP. Nahrungsmittel waren rationiert, für Busse und Autos gab es kein Benzin mehr, Strom floss nur für wenige Stunden pro Tag. Fleisch verschwand vom Speiseplan, einige brieten in der Not «Steaks» aus Ananasschale. «Wir Kubaner haben allen Grund, uns Sorgen zu machen», sagte Rafaela Rojas, eine 55-jährige Büroangestellte. «Ich denke, wir und viele andere sind völlig abhängig von Chávez.» Tatsächlich profitieren auch andere (links regierte) Länder Lateinamerikas vom revolutionären Beistand des Präsidenten, darunter Bolivien, Ecuador und Nicaragua.
Der ehemalige britische Diplomat Paul Webster Hare, der in beiden Ländern stationiert war, schätzt dass Venezuela jährlich mindestens fünf Milliarden Dollar in die kubanische Wirtschaft pumpt. Das entspricht rund der Hälfte aller Deviseneinnahmen des Inselstaates. Die täglichen Erdöllieferungen betragen inzwischen 100 000 Fass. «Kuba ist ein wirtschaftlicher Satellit Venezuelas», sagte Hare.
Zum Vergleich: Bevor Russland sie 1991 abrupt einstellte, betrugen die sowjetischen Subventionen geschätzte vier bis fünf Milliarden pro Jahr. Dafür erhielt die UdSSR kubanischen Zucker. Als Pendant zu jenem Zucker-für-Öl-Deal entsendet Kuba heute zehntausende Ärzte, Lehrer und andere Spezialisten in das in vieler Hinsicht unterversorgte Venezuela.
Reformen noch nicht weit genug gediehen
Nicht alle sind mit dem düsteren Zukunftsszenario einverstanden. «Der Zusammenbruch Kubas ist schon so oft vorausgesagt worden, aber nicht eingetreten», gibt Michael McCarthy von der Johns Hopkins University in Baltimore zu bedenken. Die kubanische Führung betont, sie habe aus der Abhängigkeit von der Grosszügigkeit anderer Staaten gelernt. Heute würden Güter und Dienstleistungen ausgetauscht und nicht mehr einfach Almosen entgegen genommen.
Trotz der jüngsten wirtschaftlichen Reformen ist höchst fraglich, ob Kuba den Wegfall seiner privilegierten Handelsbeziehungen zu Venezuela verkraften könnte. Wahrscheinlicher ist hingegen, dass diese gar nicht über Nacht wegfallen würden. Dafür könnten die gegenseitigen Verflechtungen bereits zu tief sein.