Der schnellste Zug ist Italiens grösste Hoffnung

Aktualisiert

«Frecciarossa»Der schnellste Zug ist Italiens grösste Hoffnung

Der neue Hochgeschwindigkeitszug der italienischen Staatsbahnen soll das gebeutelte Land aus der Krise katapultieren. Dafür greift der Staat tief in die Tasche.

von
Sven Zaugg
Vado Ligure

Noch vor sechs Jahren hätte sich Mauro Moretti nie zu einer so ausladenden Geste hinreissen lassen. Der Chef von Trenitalia bettelte damals vor dem Senat um Milliarden und warnte vor einem Zusammenbruch der italienischen Staatsbahnen. Tempi passati. Der Bankrott konnte in letzter Minute abgewendet werden.

Heute steht Moretti in Siegerpose vor dem schnellsten und «schönsten» Hochgeschwindigkeitszug Europas, hebt die Arme und flirtet mit der Fotografenschar. «Dieser Zug», so Moretti, «macht uns wieder stolz, Italiener zu sein». So liefert das von der Wirtschaftkrise arg gebeutelte und von strukturellen Problemen zerrissene Land für einmal positive Schlagzeilen.

Frühstück in Florenz, Dinner in Barcelona

Mit bis zu 360 Stundenkilometern soll das neue Prunkstück der italienischen Staatsbahn, der «Frecciarossa 1000», dereinst die Metropolen Turin, Mailand, Genua, Venedig, Bologna, Florenz, Rom und Neapel verbinden – und bald auch grenzüberschreitend ganz Europa erobern. Frühstück in Florenz, Lunch in Marseille, Dinner in Barcelona.

Die Vision von Trenitalia und dem kanadischen Hersteller Bombardier Transportation ist ein Europa, das mit dem Ausbau von Hochgeschwindigkeitsnetzen noch näher zusammenrückt – und die Reisezeit zwischen den Metropolen massgeblich verkürzt. Die 600 Kilometer lange Strecke zwischen Rom und Mailand wird ab 2015 in zwei Stunden und 15 Minuten machbar sein – 45 Minuten weniger als bisher.

Rieseninteresse der Medien

Kühn ist die Aussage von Lutz Bertling, Präsident und Chief Operation Officer von Bombardier Transportation, anlässlich der ersten Präsentation der gesamten Zugskomposition in Vado Ligure: Dieser Zug, sagt er, werde die Welt verändern. Vorderhand weckt der «Frecciarossa 1000» aber lediglich das Interesse der angereisten Medienvertreter. In Scharen waren sie gekommen, um mehr über den roten Pfeil und die Zukunft des ökologischen Hochgeschwindigkeitsreisens zu erfahren.

Der von Bombardier und Ansaldo Breda gebaute rote Pfeil kann maximal 485 Passagiere aufnehmen und besteht bis zu 97 Prozent aus recyclebarem Material. Er soll jährlich 500'000 Kilometer abspulen und 18 Stunden täglich in Betrieb sein. Die Aerodynamik und das neue Rollmaterial sollen den Stromverbrauch reduzieren: «Dieser Zug vereinigt in sich das Beste aus über 1000 Hochgeschwindigkeitszügen, die wir bereits gebaut haben», frohlockt Lutz Bertling. 50 Zugkombinationen hat Trenitalia bestellt. Kostenpunkt: 1,54 Milliarden Euro. Für 2015 ist der reguläre Einsatz zwischen Mailand und Neapel geplant.

Zürich-Rom direkt?

Bis auf eine Distanz von 1000 Kilometern ist der Hochgeschwindigkeitszug eine ernstzunehmende Konkurrenz für den Flugverkehr. Die Staatsbahn will mit dem neuen Hochgeschwindigkeitszug der serbelnden Fluggesellschaft Alitalia Kunden abspenstig machen und der privaten Konkurrenz auf der Schiene, der NTV-Gruppe um Ferrari-Chef Luca Cordero di Montezemolo, zuvorkommen.

Im Unterschied zu anderen Hochgeschwindigkeitszügen hat das neue Modell einen Mehrspannungsantrieb, der mit den unterschiedlichen Stromversorgungssystemen der europäischen Schienennetze kompatibel ist. Ob der Hochgeschwindigkeitszug indes je durch die Schweiz düst, ist unklar. Möglich wäre, dass die SBB und Trenitalia nach der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels im Winter 2016/2017 eine Direktverbindung zwischen Zürich und Rom einrichten. Allerdings hat Trenitalia bei früheren Projekt keinen Hehl daraus gemacht, dass der nördliche Nachbar nicht prioritär behandelt wird.

Arbeitslosigkeit auf Rekordhöhen

Die italienische Staatsbahn will sich nach eigenen Angaben hinter der deutschen und französischen Bahn als dritte Kraft in Europa etablieren. Mit dem Ausbau des italienischen Hochgeschwindigkeitsnetzes, das in den kommenden Jahren weitere Milliarden verschlingen wird (die Rede ist von 10 Milliarden Euro), erhofft sich Italien zusätzlich einen Beschäftigungsschub.

Das ist auch bitter nötig. Das Land hat seit Beginn der Krise ein Viertel seiner Industrieproduktion verloren. Und die Volkswirtschaft wächst seit fünfzehn Jahren nur halb so schnell wie die europäische Währungsunion. Die Rezession hat die Arbeitslosigkeit auf neue Rekordwerte getrieben. 12 Prozent sind ohne Arbeit, bei den Jugendlichen gar 38 Prozent. Die Staatsverschuldung könnte in diesem Jahr auf mehr als 130 Prozent des Bruttoinlandprodukts anschwellen.

«Harte Zeiten»

Italiens Wirtschaft durchlebt derzeit die längste Durststrecke seit Jahrzehnten und schrumpfte zuletzt sieben Quartale in Folge. «Wir machen gerade harte Zeiten durch», sagt Claudio Burlando, Präsident der Region Ligurien, «deshalb ist es wichtig, dass wir den Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes weiter vorantreiben, und so die Wirtschaft in ganz Italien ankurbeln und zusätzlich Beschäftigung schaffen.»

Der gelernte Elektrotechniker ist sichtlich erleichtert, dass es mit Trenitalia wieder aufwärts geht. In den 90er Jahren bekleidete er, der zum Partito Democratico (PD) gehört, unter Romano Prodi das Amt des Verkehrsministers. Während seiner Tätigkeit wurde er mehrfach für den maroden Zustand der staatlichen Eisenbahn kritisiert.

Infrastrukturprojekte bringen Arbeitsplätze

Da kommt der Hochgeschwindigkeits-Boom gerade recht. Gemäss Prognosen des internationalen Eisenbahnverbands UIC wird sich in den nächsten zwölf Jahren die Zahl der Schienenkilometer europaweit von 7100 Kilometern mehr als verdoppeln. 2025 sollen auf über 18'200 Kilometern technologische Juwelen wie der «Frecciarossa 1000» unterwegs sein.

«Die Staaten haben ein grosses Interesse daran, ihre Hochgeschwindigkeitsnetze auszubauen», glaubt Bombardier-Präsident Lutz Bertling und schlägt dabei in die gleiche Kerbe wie Burlando. Solche Infrastrukturprojekte würden in kurzer Zeit relativ viel Beschäftigung schaffen, was in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Sinn mache.

Randregionen gehen leer aus

Fragt man italienische Journalisten, was sie vom neuen Prunkstück von Trenitalia halten und wie es mit der Finanzierung des Hochgeschwindigkeitsnetzes vorangeht, wird schnell klar: Vision und Realität klaffen – zumindest teilweise – auseinander. Einer sagt, die Strategie von Trenitalia gehe in die richtige Richtung, doch Moretti vernachlässige den Güterverkehr. Ein anderer meint: Woher die Mittel nehmen, wenn nicht stehlen?

Und was passiert mit den Randregionen, also jenen Regionen, die am meisten unter der Rezession leiden? Nichts, sagt ein Wirtschaftsjournalist aus Rom. Den Süden habe man wirtschaftlich schon lange aufgegeben. Der Hochgeschwindigkeits-Boom sei primär für die Zentren von enormer Bedeutung – die Randregionen gingen abermals leer aus.

Und was sagt Trenitalia-Chef Moretti? «Dieser Zug wird das Verhalten der Italiener verändern!» Damit meint er wohl: nur einen Teil Italiens.

Bombardier muss Gas geben

Strafzahlung von bis zu 700 Millionen Franken. Im Gespräch mit 20 Minuten sagt Bombardier-Präsident Lutz Bertling: «Die ersten Züge liefern wir Ende 2015, den letzten 2019.» Man beabsichtige diesen Terminplan einzuhalten. (sza)

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