Ask the Expert«Veganer brauchen Disziplin»
Ist Bodybuildung ohne tierisches Protein möglich? Dr. Muscle über die Schwierigkeiten der veganen Ernährung.
Ist es überhaupt möglich, als Veganer so auszusehen wie die Leute im Video?
Diese Bodybuilder sind absolut gesehen nicht ausserordentlich muskulös. Es ist völlig schleierhaft, was mit Videos und Bildern von selbstdeklarierten, vegan lebenden Facebook- und Youtube-Athleten und Athletinnen bewiesen werden soll, was nicht schon längst bekannt ist.
Das wäre?
Beim Muskel- und Kraftaufbau macht die Genetik 70 Prozent des absoluten Erfolgs aus. Das Gleiche gilt natürlich auch für die allesfressende Front.
Vegane Ernährung und Muskelaufbau widersprechen sich also nicht?
Nicht zwingend, wie ich das bereits einmal beschrieben habe. Veganer müssen im Vergleich zu Omnivoren (Allesessern) aber vermehrt auf die Art und die Menge an aufgenommenen Proteinquellen achten und diese gezielt kombinieren.
Was müssen Tofu-Pumper beachten?
Proteine aus pflanzlichen Quellen (z. B. Soja, Weizen, etc.) enthalten einen geringeren Anteil an essenziellen Aminosäuren als tierische Proteinquellen wie Milch und Fleisch. Dies betrifft im Besonderen die essenzielle Aminosäure Leucin. Um bei jungen Personen den Muskelaufbau pro Einnahmezeitpunkt maximal zu stimulieren, benötigt es ca. 10 Gramm essenzielle Aminosäuren (davon circa drei Gramm Leucin).
Worin befinden sich das?
Diese Mengen sind beispielsweise in circa 25 Gramm Molkenproteinpulver (in drei bis fünf Deziliter Wasser gelöst zubereitet) oder in sieben bis acht Deziliter Milch oder in 100 Gramm Bünderfleisch enthalten. Um den gleichen Effekt zu erzeugen, bräuchte es z. B. ungefähr 2,9 Kilogramm Kartoffeln, 500 Gramm Reis oder 150 Gramm Linsen. Dies bedeutet, dass der muskelaufbauende Effekt von pflanzlichem Protein für eine gegebene Nahrungsmenge grundsätzlich kleiner ist.
Was bedeutet das konkret?
Veganer benötigen für den gleichen muskelaufbauenden Effekt entweder mehr pflanzliches Protein oder Sie müssen verschiedene pflanzliche Proteinquellen so kombinieren, dass das Aminosäurenprofil optimiert wird. Bei älteren Personen kann die erforderliche Menge an essenziellen Aminosäuren bzw. Leucin hinsichtlich des muskelaufbauenden Effekts noch höher liegen, sodass ältere, vegan lebende Personen noch mehr auf die aufgenommenen Mengen und Kombinationen achten müssten.
Gar nicht so einfach.
Es ist mit einem zeitlichen Mehraufwand verbunden, den man gewillt sein muss, in Kauf zu nehmen. Die meisten Personen bringen nicht einmal die Zeit auf, mehrmals pro Woche zu trainieren. Es stellt sich auch hier die Frage der Nachhaltigkeit in der Umsetzung dieser Ernährungsform.
Aber nicht alle wollen Milch trinken.
Es ist klar, dass wir in Zukunft auch ökologisch verträglichere Proteinquellen bzw. -produkte ohne Nutztierhaltung, erschliessen sollten, die den Muskelaufbau ebenso effektiv steigern können wie tierisches Protein. Auch für Menschen mit Nahrungsmittelallergien oder besonderen Bedürfnissen.
Wieso gibt es die noch nicht?
Es braucht noch mehr Forschungs- und Entwicklungsarbeit, etwa spezielle Pflanzenzuchtverfahren, um die Aminosäurenzusammensetzung zu verändern. Insektenproteine wären eine Variante, hier ist die kulturelle Hemmschwelle aber noch gross.
Vegetarische Kostformen und Lebensmittelauswahl
Ovo-lacto-vegetarisch:
Eier, Milch/Milchprodukte, alle pflanzlichen Lebensmittel
Lacto-vegetarisch:
Milch/Milchprodukte, alle pflanzlichen Lebensmittel
Vegan:
Nur pflanzliche Lebensmittel
Kritische Nährstoffe bei veganer Ernährungsweise
Vitamin B12, Kalzium, Eisen, Jod, Zink, Vitamin D, Langkettige Omega-3-Fettsäuren

Dr. sc. nat. Marco Toigo befasst sich im Rahmen seiner universitären Forschungsarbeit im Labor für Muskelplastizität der Universitätsklinik Balgrist mit den Mechanismen des Muskelaufbaus und -abbaus. Nebst seiner Forschungstätigkeit ist er als ETH-Hochschuldozent fur Muskel- und Sportphysiologie sowie als Buchautor tätig. Er verfügt zudem über jahrelange Erfahrung in der Ausbildung von Fitnesstrainern und der Instruktion und Betreuung von Trainierenden. Seine Kolumne «Dr. Muscle» erscheint wöchentlich.