Muskeln aus der Pillendose – ein gefährlicher Trend

Aktualisiert

Dr. MuscleMuskeln aus der Pillendose – ein gefährlicher Trend

Anabolika war gestern, der Trend der Stunde heisst Exercise Mimetics: Tabletten, die Workout-Effekte nachahmen – ganz ohne Training.

von
gss
Können Pillen die gleichen Effekte wie Hanteln auf unsere Muskeln haben?

Können Pillen die gleichen Effekte wie Hanteln auf unsere Muskeln haben?

Muskeln ohne Hanteln

Anabole Steroide und EPO sind Schnee von gestern. Das neue Schlagwort heisstExercise Mimetics. Okay, so neu ist der Begriff nun auch wieder nicht, kursiert er in der wissenschaftlichen Fachliteratur doch schon seit fast 10 Jahren. Dabei handelt es sich um die Kurzform von Exercise Mimetic Pharmaceuticals, also um chemische Wirkstoffe (Signalmoleküle), die die Effekte von Training nachahmen beziehungsweise nachbilden sollen (Trainingsmimetika). Salopp spricht man auch vom Training in Pillenform (engl. exercise pills).

So vielversprechend diese Bezeichnungen tönen mögen, so sehr handelt es sich dabei um intellektuelle und sprachliche Fehlkonstruktionen. Warum? Weil mit keiner Pille, egal wie viele Wirkstoffe darin enthalten sind, die Gesamtheit aller Effekte von Training ersetzt (oder nachgeahmt) werden kann. Training, und natürlich auch Trainingsmangel haben auf fast alle Organsysteme in unserem Körper einen Einfluss. Das ist unter anderem der Grund dafür, warum Muskeltraining gesund ist und warum der Mindergebrauch von Muskeln langfristig krankmachen kann. Damit sich positive gesundheitliche Effekte entfalten können, müssen die Anpassungsreaktionen in den verschiedenen Organsystemen zeitlich, örtlich und in ihrer Stärke aufeinander abgestimmt sein.

Richtiges Training braucht ein Orchester

Sinnbildlich gesprochen gleicht natürliches Training dem Konzert eines Sinfonieorchesters, bei dem jedes einzelne Instrument in Abstimmung mit den anderen Instrumenten funktionieren muss. Jedes einzelne Instrument ist demnach in einen musikalischen Kontext eingebettet, so wie jedes Organsystem in unserem Körper in einen physiologischen Kontext eingebettet ist. Trainingspillen können nur Teilaspekte der körperlichen Reaktionen auf Training nachahmen. Im Beispiel des Sinfonieorchesters würde dies zum Beispiel der Violine entsprechen, die alleine und ohne die Noten zu kennen Töne erzeugen würde. Diese Töne können im schlechtesten Fall Misstöne sein oder – auf unseren Körper bezogen – unerwünschte oder schädliche Nebenwirkungen mit sich bringen.

Die Liste an Argumenten, warum die Unwörter Exercise Mimetics und Exercise Pills einen falschen Eindruck vermitteln, der wiederum zu verhängnisvollen Denkfehlern führen kann, könnte beliebig fortgeführt werden. Trotz aller Limitationen ist aber auch klar, dass teilweise Trainingspillen in bestimmten Fällen sehr nützlich sein könnten. So zum Beispiel für alle Personen, die aufgrund von Krankheit, Operation oder körperlicher Schwäche gar nicht oder zu wenig trainieren können. Möglicherweise eignen sich solche Wirkstoffe auch, um Patienten auf bestimmte Operationen oder längere Spitalaufenthalte so vorzubereiten, dass die Rehabilitation verbessert werden kann.

Exercise Pills werden natürliches Training aber nie vollumfänglich ersetzen können.

Dr. sc. nat. Marco Toigo befasst sich im Rahmen seiner universitären Forschungsarbeit im Labor für Muskelplastizität der Universitätsklinik Balgrist mit den Mechanismen des Muskelaufbaus und -abbaus. Nebst seiner Forschungstätigkeit ist er als ETH-Dozent für Muskel- und Sportphysiologie sowie als Buchautor tätig. Er verfügt zudem über jahrelange Erfahrung in der Ausbildung von Fitnesstrainern und der Instruktion und Betreuung von Trainierenden.

Deine Meinung zählt