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Interview«Man sollte diese Leute ohrfeigen»

Die Zürcher Sängerin Sophie Hunger, 27, feiert Erfolge in ganz Europa. Ihr Leben sieht sie als Cabaretshow. Und hofft auf eine Revolution.

Martin Fischer
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Martin Fischer

Friday: Sophie, warst du eigentlich mal im Gesangsunterricht?

Sophie Hunger: Nein. Aus­ser dass ich zu meinen CDs mitgesungen habe. Aretha Franklin, Ray Charles oder Thom Yorke waren alle meine Lehrer.

Mit was für Musik bist du sonst so aufgewachsen?

Mein Vater hörte viel harten Punk. Von der ganz konsequenten Sorte. The Ramones und so. Meine Mutter hat mir immer Volkslieder vorgesungen.

Dein Vater war Botschafter und Diplomat. Nicht gerade der typische Punk-Rocker.

Ja, aber er nahm das sehr ernst. Ich hatte früher auch mal eine Punkband. Und als er davon Wind bekam, sagte er mir: Kannst du nicht weitergehen als die Ra­mones, lass es sein.

Auf deinem neuen Album singst du in vier Sprachen. Kommt das davon, dass ihr viel umgezogen seid?

Vielleicht. Als wir in London lebten, war ich an einer eher unkonventionellen Schule. Alle Kinder sprachen zu Hause eine andere Sprache, wir lernten San­s­krit und indische Tänze. Irgendwann fing ich an, die anderen Sprachen nachzumachen.

Du bist also ein Sprachtalent.

Ich weiss nicht. Als Kind hatte ich auch eine selbst erfundene Radiostation. Sie hiess Radio 22210. Ich nahm die Sendungen auf Kassette auf und imitierte verschiedene Stimmen. Ich war der Moderator, Professorin Schlingerdong oder ein Bauer. Ich glaube, was ich heute auf der Bühne mache, ist genau dasselbe.

Auf «1983» ist dein erster Song in Berndeutsch drauf. Du sprichst aber Zürichdeutsch.

Ja, stimmt, das ist strub. Ich wechsle immer ein bisschen ab. Gestern redete ich den ganzen Tag Berndeutsch.

Je nach Lust und Laune?

Rede ich Berndeutsch, bin ich sehr entspannt. Bei Zürichdeutsch fange ich schneller an zu streiten. Bin ich aggressiv unterwegs, rede ich manchmal extra Berndeutsch, dann passiert vielleicht nichts! (lacht)

Vergangenes Jahr hast du über hundert Gigs gespielt. Wie anstrengend wars?

Wenn man auf Tour geht, muss man vorher möglichst alle Seile kappen. Ohne jede Verbindung zu etwas auf Tour zu sein, ist super. So mache ich das.

Bist du dann nicht einsam?

Meine Tour-Cew sind immerhin zehn Leute. Sie sind mein Lebensinhalt.

Und die Familie und Freunde?

Meine Familie lebt sehr verstreut. Und ich bin absolut unzuverlässig: Ich rufe nie zurück, schreibe keine SMS und beantworte fast keine E-Mails. Ich muss sagen, meine Prognosen für das Leben nach der Bühne sehen sehr schlecht aus (lacht).

Du wirkst sehr fröhlich – anders als in deinen Songs. Bist du das?

Ja! Ich sehe mein Leben primär als eine kleine Cabareteinlage zwischen dem Jetzt und der grossen Supernova.

Willst du der Welt mit diesem Cabaret etwas mitteilen?

Bleibt bei dir nach dem Hören der CD etwas hängen, kannst du davon ausgehen, dass ich nicht ganz unschuldig bin (lacht). Darf ich noch was loswerden?

Ja, klar.

Ich wünsche mir, dass sich alle den Film «Zimmer 202» über den Schriftsteller Peter Bichsel anschauen. Das hat jetzt nichts damit zu tun, dass ich den Soundtrack dazu geschrieben habe. Wenn man den Film schaut, fängt man automatisch zu denken an. Er wird hoffentlich euer Leben verändern.

Wieso? Sollte sich unser Leben verändern?

Ich glaube, wenn wir mal 60 sind, werden wir für vieles bezahlen, was wir heute passieren lassen.

Du klingst besorgt.

Ja, das bin ich. Und ich hasse es, wenn vor allem junge Leute sagen, sie interessierten sich nicht für Politik! Man sollte die ohrfeigen.

Hat uns die Krise nicht verändert?

Ich weiss nicht, ob sich die Leute bewusst sind, in welcher Situation wir stecken. Viele sind einfach abgestumpft. Oder ihnen ist das Leben egal. Wobei das wahrscheinlich dasselbe ist.

Was schlägst du vor?

Eigentlich müssten doch alle ihre Arbeit sofort stehen lassen und eine Revolution anzetteln!

Und wie soll die aussehen?

Vermutlich wäre eine Art zweite Aufklärung nötig. Es müsste eine globale Bewegung sein. Aber ich bin ziemlich sicher, dass die nicht bei uns beginnt. Das wird in Indien oder China losgehen. Stell dir vor: Eine Milliarde Menschen marschiert auf Europa los. Und wir stehen mit der Mistgabel an der Grenze. Die zerfetzen uns alle, uns, die Profiteure der vergangenen Jahrzehnte.

Die Revolution ist gegen uns?

Exakt. Genau aus diesem Grund trin­ken wir lieber Latte macchiato, wählen heimlich SVP und fahren Rennvelo.

«1983» ist das dritte Album von Sophie Hunger. Der Vorgänger stieg vor gut

einem Jahr direkt auf Platz eins der Charts ein. Sophie hat das neue Album selbst produziert — ein intimes und vielseitiges Songwriter-Werk, getragen von einer ergreifenden Stimme und feinen Arrangements. (Irascible)

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