Von einem Albtraum in den nächsten

Aktualisiert

Fall Kampusch - Teil 1Von einem Albtraum in den nächsten

Oft allein, oft geschlagen: Natascha Kampuschs Kindheit war trist. Ihre Lebensumstände und Fotos, auf denen sie fast nackt posiert, erwecken einen schweren Verdacht.

K. Leuthold/F. Burch
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K. Leuthold/F. Burch

Die schwierige Kindheit der Natascha Kampusch. (Video: Mathieu Gilliand/20 Minuten Online)

Wenn Natascha Kampusch über ihre Kindheit spricht, rücken immer wieder Begriffe wie Streit, Schmerz oder Qual in den Vordergrund. Zu Hause habe sie einen «Lebensvorrat an Sicherheit und Geborgenheit» vermisst, schreibt sie selbst in ihrer Biografie «3096 Tage». Nach der Trennung der Eltern, fünf Jahre vor ihrer Entführung im Jahr 1998, habe ihre Mutter Brigitta S.* die Frustration an ihr ausgelassen, erinnert sich Kampusch. Mit einer «alltäglichen Form von Gewalt» wurde ihr Selbstwertgefühl langsam zerstört, da eine «fatale Mischung aus verbaler Unterdrückung und ‹klassischen› Ohrfeigen, (...) mir zeigte, dass ich als Kind die Schwächere war.»

In polizeilichen Vernehmungsprotokollen, die 20 Minuten Online vorliegen, bestätigen zudem mehrere Zeugen, dass die kleine Natascha von ihrer Mutter wiederholt geschlagen wurde (siehe Video). Wenn sie nicht alleine in der Wohnung zurückgelassen wurde, kümmerte sich die Nachbarin Martina G.* um das Mädchen. In einer Einvernahme nach dem Verschwinden des Kindes gab G. an, «zwei parallele, zirka 15 Zentimeter lange Striemen am Rücken» des Mädchens gesehen zu haben. S. habe ihrer Tochter diese Verletzungen zugefügt, nachdem S. im Zorn die Glasplatte eines Tischchens im Wohnzimmer zerschmettert hatte.

Fünfjährige, reizend, nackt, mit Peitsche und Stola

Besonders seltsam mutet zudem eine Bilderserie an, die die etwa fünfjährige Natascha in zweideutigen Posen zeigt: Mal liegt das kleine Mädchen in Diva-Pose auf einer Couch, einzig mit einer Pelzstola bekleidet, mal steht sie weitestgehend entblösst mit Peitsche und kniehohen Reitstiefeln vor der Kamera. 20 Minuten Online ist in Besitz der Bilder und hat sie während den Interviews zwei in den Fall involvierten Personen vorgelegt. Die Fotos dürfen aber aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht gezeigt werden. «Das sind keine Bilder, die ich als klassische Familienfotos einstufen würde», sagt der österreichische Abgeordnete Werner Amon, Leiter des Unterausschusses in der Causa Kampusch, im Interview mit 20 Minuten Online. Johann Rzeszut, der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs in Wien, stimmt dem sinngemäss zu: «Es sind Kinderfotos, die den durchschnittlichen Rahmen sprengen.»

Aus Mama S. und Papa K. wird Natascha Kampusch

Im Hause Kampusch waren die Verhältnisse schon lange vor der Trennung der Eltern schwierig. Die Mutter ist zum Zeitpunkt von Nataschas Geburt 38 Jahre alt und hat aus erster Ehe mit Johann S.* bereits zwei Töchter, die 20-jährige Claudia und die 16 Jahre alte Sabina. Mitte der 1970er-Jahre hat sich Brigitta S. scheiden lassen, um kurz darauf Herbert S.*, den Bruder ihres ersten Mannes, zu heiraten. Nach der zweiten Scheidung, zieht S. mit Ludwig K.* in einem einfachen Plattenbau am Rennbahnweg in Wien zusammen. Aus der Beziehung ging am 17. Februar 1988 völlig unerwartet die kleine Natascha hervor. Das uneheliche Kind trägt den Nachnamen Kampusch – den Mädchennamen der Mutter.

«Meine Mutter hatte nicht mehr mit einer Schwangerschaft gerechnet», musste sich Kampusch in ihrem Buch eingestehen. Ihr Vater Ludwig K., der die Bäckerei seines Vaters übernommen hatte, tat sich mit dem Leben schwer. Nachts zog er mit seinen Freunden durch die Bars und «wenn der Wecker um zwei Uhr früh läutete, war er kaum wach zu bekommen». Tagsüber lag er «für Stunden schnarchend auf der Couch». K.s Alkoholprobleme waren in der Nachbarschaft allen bekannt.

War die Entführung für Kampusch eine Art Erlösung?

Nach der Trennung sah Ludwig K. seine Tochter nur noch an den Wochenenden. Das Mädchen fühlte sich von seinen Eltern nicht geliebt und kompensierte seinen Frust mit Essen. Zwei Wochen vor ihrer Entführung, an ihrem zehnten Geburtstag, wog Natascha 45 Kilo. Vater K. nahm das Mädchen oft nach Ungarn mit, wo er ein kleines Ferienhaus besass. Die Halbschwester Claudia gab später in einer Polizeieinvernahme an, dass Kampusch ihr erzählt habe, sie habe mit ihrem Vater einen Stripklub besucht.

Am Wochenende vor der Entführung kam es zum Eklat: K. hatte das Kind wieder einmal nach Ungarn mitgenommen, gab es aber viel zu spät bei der Mutter in Wien ab. S. liess ihre Wut – wie gewohnt – an ihrer Tochter aus. Am nächsten Morgen, kurz bevor Kampusch verschwand, war die Beziehung sehr angespannt. «Der Ärger über den Zorn meiner Mutter, der dem Vater gegolten hatte und an mir ausgelassen worden war, schnürte mir den Brustkorb ein», schreibt sie.

Die gewagte Theorie eines Ermittlers

Das nächste Wiedersehen mit ihrer Mutter fand 3108 Tage später statt - erst zwei Wochen nach ihrer Flucht. Kampusch drängte zunächst keineswegs auf ein familiäres Wiedersehen: Als erstes fragt sie nach ihrer Grossmutter. Es verstrich einige Zeit, bevor sie nach ihrer Flucht ihre Eltern wieder traf und ihre Mutter mit den kryptischen Worten begrüsste: «Mama ich weiss, du hast das nicht so wollen.» Im ersten TV-Interview danach gefragt, wem sie am meisten vertraue, meinte sie zunächst: «Dr. Friedrich und meinen Psychologen» - erst an dritter Stelle kam schliesslich «und meiner Familie».

Dass ihre Flucht knapp vier Monate nach ihrem 18. Geburtstag gelang, sei «kein Zufall», heisst es in Ermittlungskreisen. Auch dass Kampusch in den acht Jahren viele Fluchtmöglichkeiten offenbar nicht wahrnahm - darunter selbst eine polizeiliche Lenkerkontrolle ihres Entführers, die sie als dessen Beifahrerin mitverfolgte -, deute nur auf eines hin: «Sie hat gewartet, bis sie volljährig wird. Denn sie hat gewusst, dass sie, wenn sie vorher freikommt, entweder in ein Heim gesteckt wird oder zu ihrer schrecklichen Familie zurückkehren muss», behauptet gegenüber 20 Minuten Online eine Person mit engen Kontakten zu Polizeikreisen, die anonym bleiben will. «Da wird sie sich wohl gedacht haben, sie bleibe lieber beim Entführer.»

Natascha Kampusch wollte keine Stellung zum Fall nehmen. Wolfgang Brunner, der ihre medialen Aktivitäten koordiniert, schrieb 20 Minuten Online: «Frau Kampusch gibt derzeit keine Interviews. Sie hat sich in hunderten Interviews zum Hergang ihrer Entführung geäussert, ebenso handelt ihre Biografie davon.»

*Namen der Redaktion bekannt

(Mitarbeit: Guido Grandt, Udo Schulze; Video: Mathieu Gilliand/20 Minuten Online)

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