Wahlen in ÄgyptenDer unheimliche Aufstieg der Salafisten
Die islamischen Fundamentalisten gehen aus den Wahlen als zweitstärkste Kraft hervor. Ein beachtlicher Erfolg für eine Gruppierung, die Politik eben noch als «westlich» verteufelte.

Ein ägyptischer Salafist protestiert Anfang Mai in Kairo gegen die Tötung von Al-Kaida-Chef Osama Bin Laden.
Spektakulär unzuverlässig: Anders lassen sich die Wählerumfragen verschiedener US-Institute im Vorfeld der ägyptischen Parlamentswahlen nicht bezeichnen. Das International Peace Institute und das renommierte Meinungsforschungsinstitut Gallup sahen die Muslimbrüder zwischen 12 und 15 Prozent. Laut inoffiziellen Ergebnissen haben sie in der ersten Runde dreimal so viele Stimmen auf sich vereinen können. Al Jazeera und das ägyptische Al-Ahram Centre for Political and Strategic Studies hingegen sagten den Islamisten – korrekt, wie sich nun herausgestellt hat - zwischen 35 und 46 Prozent voraus.
Einzig Al Jazeera schätzte zudem den grossen Rückhalt der radikalen Salafisten richtig ein, deren gutes Abschneiden – sie kommen auf 20 Prozent – viele Beobachter überrascht hat. Zusammen mit den Muslimbrüdern kämen sie theoretisch auf eine Mehrheit im neuen Parlament und könnten eine Regierung bilden. Saad al-Katani, Generalsekretär der mit den Muslimbrüdern verbandelten Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, dementierte allerdings am Donnerstag Pläne für ein Zusammengehen der beiden Parteien. Die einzige Koalition bestehe mit der elf Parteien umfassenden Demokratischen Allianz, der die Salafisten nicht angehören. Meldungen über eine «islamistische Regierung» tat er als «Erfindung der Medien» ab.
Inhaltlich kaum Berühungsängste
Die Beschwichtigungen der Muslimbrüder sind allerdings mit Vorsicht zu geniessen. Die salafistische Al-Nur-Partei war bis im September Teil der Demokratischen Allianz gewesen, gründete dann aber mit anderen islamistischen Parteien ein eigenes Wahlbündnis. Die Salafisten hatten sich bei der Verteilung der Listenplätze übergangen gefühlt. Ihr Entscheid, ohne die Muslimbrüder anzutreten, war angesichts ihres guten Resultats offensichtlich die richtige. Trotzdem zeigt die frühere Allianz, dass inhaltlich keine Berührungsängste zwischen den beiden Kräften bestehen. Ängste vor einer islamistischen Regierung in Ägypten sind daher nicht ganz unbegründet.
Mit ihrer unverhofften Machtoption bemühen sich die Salafisten plötzlich um einen liberaleren Anstrich. Ein Sprecher versicherte etwa am Donnerstag, dass die christlich-koptische Minderheit von ihnen nichts zu befürchten hätte. In anderen gesellschaftlichen Belangen geben sie sich allerdings weniger fortschrittlich: An einer Pressekonferenz im Oktober zum Thema «Die Rolle der Frauen» erklärte einer ihrer Referenten, nur deshalb Kandidatinnen für die Parlamentswahlen aufzustellen, weil es das Gesetz verlangt. «Kein Land wird erfolgreich sein, wenn es von Frauen regiert wird», fügte ein anderer an.
Narrenfreiheit unter Mubarak
Der Erfolg der Salafisten an der Urne entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Eigentlich lehnen sie westliche Erfindungen wie Verfassungen, Parlamente und Politik ganz allgemein ab. Im Gegensatz zu den Muslimbrüdern wurden sie unter Hosni Mubarak kaum verfolgt, eben weil sie keine politischen Ambitionen hegten und damit dem Regime nicht gefährlich werden konnten. Wie die Muslimbrüder konzentrierten sie ihre Ressourcen in wohltätigen Organisationen und erarbeiteten sich so Respekt und Ansehen in den ärmeren Bevölkerungsschichten. Die freien Wahlen erlauben ihnen erstmals, dieses riesige Wählerreservoir anzuzapfen.
Ihr plötzliches Interesse an der früher verschmähten Politik begründen sie mit dem Umstand, dass das neue Parlament auch die 100 Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung ernennen wird. Bei der Ausarbeitung wollen sie sicherstellen, dass Ägypten nicht plötzlich ein laizistischer Staat wie die Türkei wird. Angesichts des sich abzeichnenden Siegs der islamistischen Kräfte ein zunehmend unwahrscheinliches Szenario.