Doch noch Einigung am EU-Gipfel
Der Weg für eine EU-Reform ist frei: Am EU-Gipfel in Brüssel erzielten die 27 Staats- und Regierungschefs in der Nacht auf heute eine Einigung über einen neuen Reformvertrag. Dieser soll die gescheiterte EU-Verfassung ersetzen.
Sie hat es mal wieder geschafft. Mit der Einigung auf eine umfassende Reform der Europäischen Union beim Brüsseler Gipfel hat Bundeskanzlerin Angela Merkel einen weiteren schwierigen Auftritt auf internationalem Parkett gemeistert. Aus dem Poker um das künftige Abstimmungssystem der EU, um die Grundrechtecharta und den Posten eines europäischen Aussenministers ging sie am Samstagmorgen allerdings nicht als strahlende Siegerin hervor. Vor allem die Polen führten Merkel vor und rangen ihr einen Kompromiss ab, den die meisten Mitgliedstaaten nur zähneknirschend mittrugen und der die Europäische Union auf mittlere Sicht schwächt.
Zum Abschluss ihrer sechsmonatigen EU-Ratspräsidentschaft wollte Merkel unbedingt noch einmal einen Erfolg, nachdem sie schon im Ruf einer Macherin steht. Bei ihrem Gipfeldebüt kurz nach ihrer Wahl zur Kanzlerin Ende 2005 hatte sie die Verhandlungen über die europäische Finanzplanung aus der Sackgasse geführt; im März hatte sie als Ratspräsidentin die EU auf ehrgeizige Klimaschutzziele eingeschworen, und beim G-8-Gipfel in Heiligendamm vor zwei Wochen gelang es ihr, auch die führenden Industrienationen in den Kampf gegen die Erderwärmung einzubinden.
Entsprechend hoch waren die Erwartungen - trotz der schwierigen Ausgangslage. Denn in Warschau hatten die Brüder Kaczynski mit ihrem Widerstand gegen eine neuen Abstimmungsmodus in der EU schon im Vorfeld klargemacht, dass sie der Kanzlerin keinen Erfolg auf dem Silbertablett gönnen würden.
Erschöpft nach dem nächtlichen Ringen machte die Kanzlerin in Brüssel keinen Hehl aus der Tatsache, dass sie sich ein besseres Ergebnis gewünscht hätte. Sie habe eine ganze Reihe von Zugeständnissen gemacht, räumte Merkel ein. Die Kompromissbereitschaft aller sei bis ans Ende ausgereizt worden. «Was zählt ist, dass wir aus Erstarrung, aus Stillstand herausgekommen sind und die Weichen für einen neuen Vertrag gestellt haben», meinte sie. Die EU sei nun wieder handlungsfähig. Allerdings ist es Polen gelungen, ein entscheidendes Instrument der Handlungsfähigkeit für die nächsten zehn Jahre auszuhebeln.
Noch in der «Berliner Erklärung» zum 50. Jubiläum der Gemeinschaft im März hatte Merkel die 27 Mitgliedstaaten darauf eingeschworen, die EU bis 2009 auf eine erneuerte Grundlage zu stellen. Damit war vor allem die Reform der Institutionen gemeint, die einen wichtigen Teil der gescheiterten Verfassung ausmachten und die in einen Änderungsvertrag hinübergerettet werden sollten. Die institutionelle Reform, zu der die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, die Verkleinerung der Kommission und eben das von Polen angefochtene neue Abstimmungsverfahren gehören, sollte es der EU erlauben, auch künftig noch neue Mitglieder aufnehmen zu können, ohne an Handlungsfähigkeit einzubüssen.
Auf dem Gipfel knickte Merkel dann aber doch vor dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski und seinem Zwillingsbruder, dem Ministerpräsidenten Jaroslaw, der von Warschau aus die Strippen zog, ein. Um Polen mit ins Boot zu holen, wurde die Einführung des geplanten neuen Abstimmungsmodus - der doppelten Mehrheit - faktisch auf das Jahr 2017 verschoben. Zwar tritt die doppelte Mehrheit offiziell «schon» 2014 in Kraft, doch kann bis 2017 jeder Mitgliedstaat beantragen, Beschlüsse auch noch einmal nach dem alten System überprüfen zu lassen.
Erschrocken über den eigenen Mut
Dieses Entgegenkommen ist umso verwunderlicher, als Merkel beim Gipfeltreffen angesichts der polnischen Sturheit zwischenzeitlich der Kragen platzte. 26 EU-Staaten befürworteten die Einführung der doppelten Mehrheit 2009, Lech Kaczynski aber mauerte trotz zahlreicher Kompromissangebote, die ihm Merkel mit Unterstützung der Präsidenten Frankreichs und Litauens, Nicolas Sarkozy und Valdas Adamkus, unterbreitete.
Als Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski aus Warschau wegen angeblich mangelnden Entgegenkommens der EU erneut mit einem Veto drohte, hatte Merkel die Nase gestrichen voll. Als Ratspräsidentin drohte sie den Polen offen mit einer Isolierung, wenn sie nicht klein beigäben. Dann hätten die anderen 26 mit der Ausarbeitung der Reformen voranschreiten können, und Polen hätte sich gegebenenfalls wieder einklinken können, sobald es zur Vernunft gekommen wäre. Im ungünstigsten Szenario wäre das vielleicht der Anfang vom Zerfall der EU gewesen.
Erschrocken über den eigenen Mut ruderte Merkel zurück; konfrontiert mit den Konsequenzen ihrer Forschheit rückten aber auch die Kaczynskis von ihrer Blockadehaltung ab. Mit Hilfe des luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker, eines erfahrenen Fuchses für kniffelige Verhandlungssituationen, wurde der Kompromiss gezimmert. Sarkozy setzte sich persönlich dafür ein, dass ihn auch die «Freunde der Verfassung» mittrugen.
Die 18 Mitgliedstaaten, die die Verfassung - teils per Referendum - ratifiziert haben, und die vier weiteren, die dazu bereit waren, hatten es ursprünglich kategorisch abgelehnt, das Paket der institutionellen Reformen noch einmal aufzuschnüren. So manch einer von ihnen wird jetzt heimlich die Faust in der Tasche ballen. Denn die Handlungsfähigkeit der EU wird bis 2017 nicht wirklich erleichtert, wenn um jede Mehrheitsentscheidung nach wie vor unter den 27 geschachert werden muss. (dapd)
Übersicht der geplanten Reformen:
Neuer Chef: Ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Präsident soll der EU Gesicht und Stimme geben und für mehr Kontinuität in der Politik der Gemeinschaft sorgen. Bislang wechseln sich die 27 EU-Staats- und Regierungschefs alle sechs Monate auf dem Chefsessel ab.
Stärkung der gemeinsamen Aussenpolitik: Die Kompetenzen des EU-Aussenbeauftragten (derzeit der Spanier Javier Solana) werden aufgewertet. Er erhält einen so genannten «Doppelhut»: Zusätzlich zu seinen bisherigen Aufgaben soll er auch die des EU-Aussenkommissars (derzeit eine Kommissarin, Benita Ferrero-Waldner) übernehmen und wird Vizepräsident der Kommission. Als offizieller Titel wurde «Hoher Vertreter der Union für Aussen- und Sicherheitspolitik» festgelegt.
Verkleinerung der EU-Kommission: 2014 wird die EU-Kommission verschlankt. Während gegenwärtig alle 27 EU-Länder ihren eigenen Kommissar haben, werden dann nur noch zwei Drittel der Mitgliedstaaten in der Brüsseler Behörde vertreten sein. Ein Rotationsprinzip soll sicherstellen, dass alle Staaten die gleiche Chance haben, einen Kommissar nach Brüssel zu entsenden.
Abschaffung von Veto-Möglichkeiten: Derzeit sind Beschlüsse in vielen Politikbereichen nur möglich, wenn die EU-Staaten Einstimmigkeit erzielen. Künftig sollen Mehrheitsentscheidungen die Regel sein, damit nicht länger ein einzelner Mitgliedstaat alle übrigen 26 blockieren kann. Zudem wäre an den meisten Entscheidungen auch das Europaparlament beteiligt. Bei Steuerfragen, in der Aussenpolitik und einigen anderen Bereichen bleibt es aber beim Einstimmigkeitsprinzip.
Stimmverteilung im Ministerrat: Das Abstimmungsprinzip der doppelten Mehrheit wird erst zum 1. November 2014 eingeführt. Für einen Beschluss ist dann die Zustimmung von 55 Prozent der Mitgliedstaaten nötig, die gleichzeitig mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung vertreten. Damit wird der Bevölkerungsstärke der einzelnen Mitgliedstaaten stärker Rechnung getragen als bislang. Während einer Übergangsphase bis zum 31. März 2017 kann jeder einzelne EU-Staat aber bei einer unliebsamen Entscheidung verlangen, die Abstimmung nach dem bisher gültigen System nach dem Vertrag von Nizza zu wiederholen. Auch noch nach 2017 können die Verlierer einer Abstimmung unter bestimmten Bedingungen eine Verlängerung der Verhandlungen einfordern.
Grundrechtecharta: Die bereits Ende 2000 unterzeichnete EU-Charta der Grundrechte soll mit dem neuen Vertrag rechtsverbindlich werden.
Subsidiaritätsprinzip: Sprechen sich eine Mehrheit der nationalen Parlamente in der EU gegen einen Richtlinien-Entwurf der EU-Kommission aus, so muss diese ihren Vorschlag überprüfen. Will sie ihn unverändert beibehalten, muss sie eine begründete Stellungnahme abgeben. Diese Stellungnahme und die Gegenargumente der nationalen Parlamente müssen dann bei der Beratung des Richtlinien-Entwurfs im EU-Ministerrat und im Europaparlament berücksichtigt werden.
Bürgerbegehren: Wenn eine Million EU-Bürger per Unterschriftenliste zu einem bestimmten Problem ein Gesetz verlangen, muss die Kommission tätig werden. (ap)