US-Cops als Verbrechens-Wahrsager

Aktualisiert

«Pre-Crime»US-Cops als Verbrechens-Wahrsager

Stellen Sie sich vor, Sie brechen ein, und die Polizei wartet schon: Mit Vorhersage-Modellen versuchen kalifornische Cops, solche Szenarios wahr werden zu lassen. Es gibt aber auch Kritik an der Überwachung.

Philipp Dahm
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Philipp Dahm

Das amerikanische «Department of Homeland Security» (DHS) arbeitet an Sensoren, die potenzielle Gauner und Attentäter aufspüren soll, während die Polizei in Los Angeles ein Rechen-Modell testet, das Verbrechen vorhersagt. Wird die Kino-Vision des Hollywoodstreifens «Minority Report» von 2002 wahr, in der Tom Cruise die Täter aus der Zukunft schon vor der Ausübung ihrer Tat verhaftet? «Es geht nicht um die Verhaltens-Vorhersage eines spezifischen Individuums», schwächt Professor Jeffrey Brantingham ab. «Es geht um die Vorhersage des Risikos für ein bestimmtes Verbrechens in Zeit und Raum.»

Der Anthropologe der Universität von Kalifornien bildet mit einem Kriminalisten, zwei Mathematikern und weiteren Experten eine Forschungsgruppe, die mittels «Predictive Policing» Süd-Los-Angeles sowie die kalifornische Stadt Santa Cruz sicherer machen soll. Das Anfang 2010 gestartete Projekt habe sich bereits bewährt: Neben der Verhinderung diverser Verbrechen habe das Programm zu fünf Verhaftungen geführt, berichtete die «New York Times». Und die Ordnungshüter sind wegen sinkender Personalmittel dringend auf technische Hilfe angewiesen: «Wir stecken in einer Situation, in der wir 30 Prozent mehr Notrufe haben als im Jahr 2000 bei 20 Prozent weniger Personal», sagte der Kriminalist Zach Friend dem Blatt.

Hilfe aus Beben- und Konsumforschung

Das Programm, das das Los Angeles Police Departments (LAPD) verwendet, war ursprünglich geschrieben worden, um Nachbeben zu berechnen. Als Vorbilder dienten dabei Konzerne wie Wal Mart oder Amazon, die mit dem sogenannten «Data Mining» fleissig Daten über ihre Kunden sammeln. Beim Online-Händler Amazon heisst es beim Vorhersagemodell: «Kunden die diesen Artikel gekauft haben, haben auch XY gekauft.»

Beim Supermarktriesen Wal Mart kommt das Vorhersagemodell zum Beispiel bei einer Sturmwarnung zum Tragen: In diesem Fall werden die Filialen neben offensichtlich notwendigen Dingen wie Wasserflaschen oder Panzerband auch mit «Pop-Tarts» ausgestattet. Die süssen Fertigbrote müssen in der Geschmacksrichtung Erdbeere geliefert werden, denn die verlangen Kunden in solchen Zeiten am häufigsten. Sie können ohne Strom serviert werden und sind besonders bei Kindern beliebt. So ermöglichen Computerprogramme die genaue Planung eines künftigen Ereignisses. Der technologische Fortschritt machts möglich.

In den 60er Jahren setzten US-Cops noch auf die drei Rs: random patrol (willkürliche Patrouillen), rapid response (schnelle Reaktion) und reactive investigation (rückwirkende Ermittlung). In den 90ern wurde die Öffentlichkeit miteinbezogen: «Community policing» setzte auf die drei Ps Partnerschaft, Problemlösung und Prävention. Gleichzeitig ahnten Sicherheitsexperten, dass sie künftig verstärkt auf vergleichende Computerstatistiken setzen mussten. In New York wurde deshalb 1995 «CompStat» gegründet, wo Zahlen zu Straftaten und kriminelle Brennpunkten erfasst und grafisch in Karten aufbereitet werden. Die Polizeiwagen erhielten damals zusätzlich ihre «Bordcomputer»: Auch deshalb sank die Kriminalitätsrate im Big Apple seither um 60 Prozent.

Knaller-Eregbnis an Sylvester

Nach 9/11 änderte sich das Anforderungsprofil der Polizei erneut. Ab 2001 setzte sie auf eine «informationsbasierte Polizeitaktik»: Zusammen mit dem DHS galt es nun auch, Terroristen habhaft zu werden, bevor sie Attentate verüben können.

Bis dato haben Datenbanken rückblickend gearbeitet: Können die Cops mit ihren Informationen nicht auch in die Zukunft schauen? In New York machte die Polizei in der Sylvesternacht 2003 die Probe aufs Exempel: In Vierteln, in denen es zuvor oft Beschwerden über Schüsse gegeben hatte, zeigten sie verstärkt Präsenz. Die denkbar einfache Massnahme führte zu 47 Prozent weniger Beschwerden, während 246 Prozent mehr Waffen beschlagnahmt wurden. Weil weniger Cops gezielter eingesetzt wurden, sparten die Stadt in einer Acht-Stunden-Schicht 15 000 Dollar ein, berichtet das Fachblatt «Police Chief Magazine».

In Chicago wurde im selben Jahr sogar eine eigene Einheit ins Leben gerufen, die Verbrechen vorhersagen soll. Informationen etwa über Gangs liefen fortan in der «Zentrale für Einsatzoperationen» zusammen, die ein Mal täglich in einer Konferenz über die Lage berichtete. Seit 2007 arbeitet ein «Fusionszentrum» rund um die Uhr, in dem Polizisten, DHS-Experten und andere Dienste wie das FBI vereint werden. Anhand demographischer Daten und Kriminalstatistiken werden heute täglich zwei Lageberichte publiziert, die Brennpunkte aufzeigen. Laut «Chicago Sun-Times» wirkt das System: Im Oktober 2010 hätte die Gruppe eine Reihe von Notrufen analysiert und errechnet, dass die nächste Schiesserei in einem bestimmten Wohnblock in der South Side stattfinden würde. Drei Minuten später sei es tatsächlich passiert.

Wie arbeiten die Vorhersagemodelle?

Die Stadt Minneapolis hat nicht dieselben Mittel wie New York, Chicago oder Los Angeles. Hier arbeitet die Polizei mit einem Vorhersage-Programm, dass vom Justizministerium gratis abgegeben wird. Im Oktober 2010 konnten zwei Männer verhaftet werden, die ein Cafe überfallen hatten: Fünf Uniformierte waren in dem Gebiet auf Streife, weil das Programm einen Raub bei Läden entlang der Lake Street für möglich hielt. Computerexperte Ryan Hughes sagte der «Star Tribune», sein Arbeitgeber könne so 45 Prozent der Gewaltverbrechen in der Stadt vorausahnen. Er hoffe nun, dass die Behörde Geld in bessere Software investiere, die noch genauer sei.

So wie diejenige der Polizei von Los Angeles, die auch im kalifornischen Santa Cruz zum Einsatz kommt. Dort sind die Einbrüche im Vergleich zu Juli 2010 um 27 Prozent zurückgegangen: Wie schafft es ein Programm, die Taten vorauszuahnen? Wer es mit Daten bisheriger Einbrüche füttert, bekommt eine Übersicht über Brennpunkte. Wer glaubt, dass ein Strassenzug erst einmal sicher sei, wenn es den Nachbarn getroffen hat, liegt nämlich falsch: Die Chance eines weiteren Einbruchs erhöht sich nach einer solchen Tat. Der Computer berücksichtigt daneben weitere Faktoren: Kriminalitätsstatistiken, Einkommensdaten, Bebauungsdichte und Alarmanlagen. Mit speziellen Algorithmen erarbeitet er dann seine Vorschläge.

Keine Verwendung für Mordverbrechen

Ähnlich gut sind die Ergebnisse bei Autodiebstählen, wo es ebenfalls entsprechend viele Daten gibt. Die «New York Times» berichtete von einem Fall vom Juli, als zwei Frauen in einem Parkhaus verhaftet wurde. Gegen die eine lag ein Haftbefehl vor, die andere hatte Drogen bei sich. Gerufen hatte die Cops aber kein Mensch - sie waren vor Ort, weil das Programm vorausgesagt hatte, dass ein Autodiebstahl an jenem Tag in diesem Gebiet möglich sei. Alleine durch seine Präsenz kann der Staat so Straftaten verhindern. Bei Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung funktioniert das Orakel dagegen nicht: Solche Taten passieren selten und meist spontan.

Die Kehrseite der schönen neuen Polizeiwelt zeigt «Die Zeit» auf. Das Hamburger Wochenmagazin sieht die Gefahr einer Beeinflussung der Menschen durch das Wissen, dass sie in einer kriminellen Umgebung sind oder selbst straffällig werden könnten. Denn das Gefühl, beobachtet zu werden, beeinflusst unser Verhalten, wie Forscher der Universität Newcastle herausgefunden haben. Sie stellten in zwei Räumen eine freiwillige Kaffeekasse auf. In einem Raum hängten sie ein Blumenbild an die Wand, im anderen das Foto eines Augenpaares. In der letzteren Kasse befand sich am Ende des Versuchs drei Mal so viel Geld.

«Gesellschaft verändert sich durch Überwachung»

«Auch eine Gesellschaft verändert sich durch Überwachung», betonte Philosoph Sandro Gaycken, der ein Buch zum Thema schreibt. Zudem bringe sie nicht unbedingt mehr Sicherheit: Mit Kameras gespickte Staaten wie Irland und Grossbritannien würden andernsfalls in der Kriminalstatistik nicht schlechter abschneiden als andere Europäer, zeigt der «European Crime and Safety Survey». «Das Prinzip Vertrauen ist die Grundlage des Rechtsstaats», so Gaycken zur «Zeit». Der habe sich früher erst dann für seine Bürger interessiert, wenn der das Gesetz brach, während nun «verdachtsunabhängig» gehandelt werde.

Wie weit der Staat dabei gehen kann, beweist das DHS mit seiner «Future Attribute Screening Technology», die 2008 bekannt wurde. Das Amt arbeitet an einer Phalanx von Sensoren, die allerlei Körperfunktionen kontrolliert. Herzschlag, Atemfrequenz und Wärme werden gemessen, während Kameras Mimik und Position sowie Weite der Pupillen auswerten. Diese Informationen werden mit demographischen Daten wie Geschlecht, Alter oder Ethnie abgeglichen. So will das DHS sowohl kleine Fische wie Terroristengrössen erkennen, bevor sie in Aktion treten. Die Gefahr: Wenn solche Systeme mit denen der Polizei gekoppelt werden, könnte bald jeder verdächtig sein.

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