Abstimmung72,7% gegen BVG-Vorlage - Aufsicht gefordert
Ein so deutliches Nein hatte niemand erwartet: 72,7 Prozent des Stimmvolkes sagt Nein zur Senkung des Umwandlungssatzes. Die Gewinner fordern jetzt eine unabhängige Überwachungsstelle und Konsequenzen bei der AHV-Revision. Die Verlierer weisen auf ungelöste Probleme hin.
Das Resultat ist klar: 72,7 Prozent der Schweizer Stimmbürger sagen Nein zur Senkung des Umwandlungssatzes, obwohl Bundesrat, Parlament und der Grossteil der Parteien eine Ja-Parole herausgegeben haben. Offenbar überwiegt bei der Bevölkerung die Angst vor Rentenkürzungen.
Mit dem deutlichen Nein haben die Gewerkschaften einen grossen Sieg errungen. Dort zeigt man sich denn zufrieden, aber auch überrascht vom Resultat. «Für die Leute ist ihre Rente wichtig und auch der Rentenbetrag ist ihnen wichtig», erklärt Andreas Rieger, Unia-Kopräsident, den Erfolg. Fünf Prozent weniger Rente könnten viele Leute nicht verkraften. Erfreut zeigen sich auch die Grünen, die ein Nein unterstützt hatten. Nationalrätin Franziska Teuscher sprach von einem klaren Bekenntnis für eine soziale Schweiz.
Unabhängige Überwachungsbehörde gefordert
Die Gewinner erheben gestärkt durch das klare Resultat auch erste Forderungen. Dabei steht insbesondere eine bessere Kontrolle im Vordergrund. Die Pensionskassen würden zuwenig überwacht, sagte Rudolf Strahm, früherer SP-Nationalrat und Ex-Preisüberwacher am Schweizer Fernsehen. «Sie sind zu einem Selbstbedienungsladen für Banker und Assetmanager geworden.» Deshalb brauche es neue Vorschriften und eine unabhängige Überwachungsbehörde. Das zuständige Bundesamt sei befangen, so Strahm. «Der Ball liegt jetzt bei Bundesrat Burkhalter.» Ebenfalls eine unabhängige Überwachungsstelle fordert SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga am Schweizer Fernsehen. Weiter müsse die Transparenz verbessert und sichergestellt werden, dass bei steigenden Zinsen dieses Geld auch den Beitragszahlern zugute komme.
Die Gewinner geben sich weiterhin kämpferisch. Im Fokus steht dabei die 11. AHV-Revision, die derzeit von den Eidgenössischen Räten behandelt wird. Unia-Kopräsident Rieger erwartet vom Parlament, dass es innehält und die 11. AHV-Revision überdenkt. Diese sehe wiederum zahlreiche Verschlechterungen für die Leute vor. Das Nein sei eine Absage an weitere Abbauvorlagen, schreibt die SP in einer Mitteilung. Deshalb werde sich die Partei umso stärker gegen die geplanten Kürzungen bei der Arbeitslosenversicherung und bei der AHV wehren.
«Realitätsverweigerung»
Zu den Verlierern gehört der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, der sich vom Nein nicht überrascht zeigt. Eine «Abbauvorlage» wie diejenige zum Mindestumwandlungssatz brauche das Vertrauen der Bevölkerung, sagt Direktor Urs Rellstab. «Offenbar hatte die Bevölkerung dieses Vertrauen im momentanen politischen Umfeld mit Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Diskussion um Managerlöhne nicht.» Der Arbeitgeberverband beklagt, das Nein verschiebe die Probleme, anstatt sie rechtzeitig zu lösen. Das Votum sei eine «Realitätsverweigerung zu Lasten der Jüngeren».
Von einer grossen Niederlage spricht FDP-Nationalrat Pierre Triponez. Zwar müsse man das demokratische Nein akzpetieren, aber das Problem sei trotzdem nicht gelöst. Er sieht drei Möglichkeiten, damit die Finanzierung der Beruflichen Vorsorge gesichert bleibt: eine Erhöhung des Rentenalters, eine Erhöhung der Beiträge oder — und das sei ihm am sympathischsten — eine Senkung des Umwandlungssatzes. Die letzte Möglichkeit sei mit dem Nein aber derzeit nicht aktuell.
Neue Reglementierung bringe höhere Kosten
Der Sozialpolitiker und CVP-Ständerat Urs Schwaller ist sich die Gefahr einer Niederlage bei ähnlichen Vorlagen bewusst. Bei der Arbeitslosenversicherung, die derzeit im Parlament behandelt wird, bringe man nur Kürzungen nicht durch, sagte er am Schweizer Fernsehen. «Wahrscheinlich haben die Gewerkschaften die Plakate bereits gedruckt», sagte er in Anspielung auf das angekündigte Referendum. Schwaller sprach sich gegen eine neue Aufsichtsbehörde für Pensionskassen aus, wie sie von linker Seite gefordert wird. Eine neue Reglementierung bringe nur höhere Verwaltungskosten. (mdr/sda)
Die Resultate
Das Schweizer Volk hat die Senkung des BVG-Umwandlungssatzes mit 72,7% klar abgelehnt. Bei den ausgezählten Kantonen zeigt sich ein leichter Röstigraben. So haben die Westschweizer Kantone die BVG-Vorlage mit über 75% abgelehnt. Besonders stark war der Nein-Anteil im Jura (84,8%), in Neuenburg (81,6%) und im Wallis (80,9%).
In der Deutschschweiz liegt der Anteil der Nein-Stimmen mehrheitlich unter 70%. Am meisten Befürworter fanden sich im Kanton Appenzell-Innerrhoden, wo 57,7% der Stimmberechtigten Nein sagten. Im Kanton Tessin lehnten 78,6% die Senkung des Umwandlungssatzes ab. (mdr)