Der Freund, der auf mich schiesst

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Explosiver GeheimberichtDer Freund, der auf mich schiesst

Die Nato bekämpft in Afghanistan nicht nur die Taliban, sondern zunehmend auch einen anderen unheimlichen Feind: Verbündete afghanische Soldaten – die sie selbst zum Töten ausgebildet hat.

kri
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Afghanische und französische Soldaten auf einer gemeinsamen Mission im September 2011.

Afghanische und französische Soldaten auf einer gemeinsamen Mission im September 2011.

Zehn Jahre nach seinem Beginn und weniger als drei Jahre vor seinem voraussichtlichen Ende zeigt der Nato-Feldzug in Afghanistan besorgniserregnde Auflösungserscheinungen: Bei einem Angriff eines afghanischen Soldaten auf ausländische Kameraden sind am Freitag in der ostafghanischen Provinz Kapisa vier Franzosen getötet worden. In einem ähnlichen Fall wurde Anfang Januar ein US-Soldat beim Volleyballspielen erschossen. Ende Dezember traf es zwei Soldaten der Fremdenlegion.

Die Nato spricht in ihren Communiqués stets von Einzelfällen, obwohl deren Häufung inzwischen kaum noch bestritten werden kann. Nun ist ein Geheimbericht zu den unheimlichen Vorfällen in die Hände der «New York Times» geraten. Das 70-seitige Dokument trägt den Titel «Vertrauenskrise und kulturelle Inkompatibilität» und stammt von einem Verhaltensforscher, der im Auftrag der Nato 613 afghanische Soldaten und Polizisten, 215 amerikanische Soldaten und 30 afghanische Dolmetscher befragte.

Entfremdung und Hass nimmt zu

Sein Befund fällt vernichtend aus. Tödliche Auseinandersetzungen zwischen «Verbündeten» in diesem Ausmass seien wohl beispiellos in der modernen Militärgeschichte. Die offiziellen Verlautbarungen der Nato seien «unehrlich», heisst es darin. Ein Sprecher des Militärbündnisses wollte den Bericht nicht kommentieren, betonte aber, zwischen den Koalitionstruppen und der afghanischen Armee gäbe es keine Probleme.

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Laut dem Bericht haben afghanische Truppen seit 2007 über 30 Mal ihre westlichen Kameraden angegriffen und dabei bis Mai 2011 mindestens 58 getötet. Der schlimmste Zwischenfall ereignete sich im April 2011, als ein Oberst der afghanischen Luftwaffe acht Amerikaner in ihrem Quartier erschoss und sich anschliessend das Leben nahm.

Nicht weniger beunruhigend als diese Statistiken sind die Hintergründe. «Der gegenseitige Hass nimmt rapide zu», zitiert die «New York Times» einen afghanischen Oberst. Er beschrieb seine Truppe als «Diebe, Lügner und Drogenabhängige». Die Amerikaner kommen nicht viel besser weg. Diese bezeichnete er als «unhöflich, arrogant und vulgär». Ironischerweise scheint die gegenseitige Verachtung zuzunehmen, je besser sich die beiden Seiten kennen lernen.

Problematischer Abzugstermin 2014

Fälle, in denen westliche Soldaten afghanische Kameraden angreifen, sind bisher keine bekannt. Spektakuläre Beispiele von Gewalt gegen afghanische Zivilisten hingegen gibt es einige. In welchem Ausmass manche US-Soldaten Afghanen verachten, offenbarte zuletzt ein Video, in dem Soldaten auf getötete Taliban urinieren. Während das Pentagon die Bilder scharf verurteilte, zeigten sich Veteranen in Chatrooms und auf Facebook begeistert.

Dieselbe Verachtung dokumentiert auch der Bericht. US-Soldaten bezeichneten die Afghanen darin als «unzuverlässig, unehrlich und drogenabhängig». «Sie sind die ganze Zeit bekifft, sogar wenn sie mit uns auf Patrouille gehen», sagte einer. Im Gefecht seien sie feige und überliessen den Amerikanern das Kämpfen.

Die Enthüllungen werfen ein schiefes Licht auf den offiziellen Abzugstermin von 2014. Ob die afghanischen Sicherheitskräfte nachher willens und in der Lage sein werden, islamistische Extremisten zu bekämpfen, erscheint so zweifelhaft wie lange nicht mehr.

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