Ulrich Tilgner«Ich sehe keinen Nachfolger Bin Ladens»
Osama Bin Laden ist tot. Nahostexperte Ulrich Tilgner erklärt im Interview, was das für die Al Kaida, Barack Obama und für den Westen bedeutet.
Osama Bin Laden ist tot. Ist die Welt jetzt sicherer?
Ulrich Tilgner: Kurzfristig nicht, langfristig schon.
Wie meinen Sie das?
Al Kaida wird jetzt versuchen, geplante Aktionen in die Tat umzusetzen. Einerseits aus Rachemotiven, andererseits um zu signalisieren, dass sie als Organisation immer noch handlungsfähig ist. Langfristig ist sie natürlich geschwächt, weil sie ihren unbestrittenen Anführer verloren hat.
Wie stark ist Al Kaida überhaupt noch?
Al Kaida ist mit ihren global verteilten Kommandos in Nordafrika, Jemen und Somalia momentan noch sehr stark. Sie hat in jüngster Zeit allerdings zwei schwere Rückschläge hinnehmen müssen: Einerseits den arabischen Frühling, in dem die Menschen gesehen haben, dass friedliche Demonstrationen und eben nicht Terror sie weiterbringen. Andererseits der jetzige Tod ihres Anführers.
Wer könnte Bin Ladens Platz einnehmen?
Ich sehe niemanden, der das schaffen könnte, auch nicht Aiman al-Zawahiri, die Nummer zwei in der Al Kaida. Eine Zeit lang versuchte die Organisation, regionale Führer zu installieren, etwa im Irak, aber diese haben keine grosse Bedeutung erlangen können.
Besteht die Gefahr, dass Bin Laden zu einem noch grösseren Held wird, weil er im Kampf gefallen ist?
Das glaube ich eher nicht. Teil seines Mythos war ja, dass er sich in den Bergen verstecken und den Amerikanern immer wieder entwischen konnte. Dass sie ihn trotz all dieser Sicherheitsmassnahmen aufgespürt und getötet haben, wird sein Ansehen in den Augen seiner Anhänger sicher nicht steigern.
Drohen jetzt Racheakte? Und wo?
Ich vermute gegen amerikanische Einrichtungen in arabischen Staaten, möglicherweise auch in den USA, wenn hierfür Pläne bestehen. Auch fanatisierte Einzeltäter, die aus Kummer über das Ableben ihres Idols sterben wollen, sind nicht auszuschliessen.
Warum hat Pakistan selbst bisher nichts unternommen?
Das wundert mich überhaupt nicht. Die USA haben ein grosses Problem mit dem pakistanischen Geheimdienst, der Verbindungen zu den Taliban unterhält. Pakistan ist kein verlässlicher Partner im Kampf gegen den Terrorismus.
Pakistan war gar nicht involviert in die Aktion?
Die USA werden alles getan haben, Pakistan nicht einzubeziehen, um die Aktion nicht zu gefährden. Vermutlich waren Pakistaner als Informanten und Mitarbeiter, vielleicht auch einzelne Offiziere involviert, aber sicher nicht die Armee und der Geheimdienst Pakistans.
Wussten Sie, dass die Amerikaner immer noch so intensiv nach Bin Laden gefahndet haben?
Es war Obamas grosses Versprechen, ihn zu fangen, und jetzt hat er es geschafft. Die Bedeutung für seine Wiederwahl könnte enorm werden. Wenn der Abzug aus Afghanistan ähnlich wie jener aus dem Irak gelingt, kann Obama 2012 als erfolgreicher Aussenpolitiker in den Wahlkampf ziehen und behaupten, den Krieg gegen den Terrorismus gewonnen zu haben.

Ulrich Tilgner ist Korrespondent des Schweizer Fernsehens und berichtet seit den 80er Jahren aus dem Orient. Er beschäftigt sich vor allem mit den politischen Konflikten der Region und ihren wirtschaftlichen und kulturellen Hintergründen.