«Wir sind auf Gaddafis Goodwill angewiesen»

Aktualisiert

Libyen-Affäre«Wir sind auf Gaddafis Goodwill angewiesen»

Gaddafi lässt die vertragliche Frist verstreichen. Doch die Möglichkeiten der Schweiz sind beschränkt. Völkerrechtsexpertin Helen Keller rät, den Fokus auf die Geiseln zu legen. Diese würden von Libyen widerrechtlich festgehalten. Dagegen sollten die Angehörigen klagen.

Marius Egger
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Marius Egger

Die 60-tägige Frist des Vertrags zwischen Libyen und der Schweiz läuft am heutigen 20. Oktober aus. Soll die Schweiz die diplomatischen Beziehungen abbrechen?

Helen Keller: Das wäre zwar rechtlich zulässig, aber nicht sinnvoll. Die Schweiz müsste ihre Interessen durch einen anderen Staat vertreten lassen. Soweit bekannt, sind bisher einzig die Vereinigten Staaten dazu bereit. Das Verhältnis zwischen den USA und Libyen ist aber ebenfalls angespannt. Wir schneiden uns damit ins eigene Fleisch.

Die Schweiz steht also ziemlich alleine da?

Auf internationaler Ebene steht die Schweiz nicht schlecht da. Viele Staaten sind auf unserer Seite. Aber niemand will die Situation eskalieren lassen. Libyen ist ein wichtiger Engergielieferant, und Energie ist ein grosses Thema. Es ist deshalb besser, innerstaatliche Ressentiments zurückzustellen.

Die Libyer spielen seit Monaten auf Zeit. Die Stimmen mehren sich, man wolle sich nicht länger von Libyen an der Nase herumführen lassen.

Das kann ich verstehen. Aber man muss unterscheiden: Was ist völkerrechtlich möglich, wenn die Frist tatsächlich abgelaufen ist, und was sind unsere Gefühle? Diese Ebenen muss man trennen.

Was ist völkerrechtlich der beste Weg?

Das Problem in dieser Affäre ist, dass sich die Diskussion bisher einzig um die Frage dreht: Was kann der Staat Schweiz gegen den Staat Libyen unternehmen? Es ist eine Diskussion auf der zwischenstaatlichen Ebene. Die Schweiz sollte davon wegkommen.

Was soll sie stattdessen tun?

Die beiden Schweizer werden völkerrechtswidrig in Libyen festgehalten. Denn Libyen hat den Uno-Pakt II ratifiziert, den Pakt über die politischen und bürgerlichen Rechte, der vor willkürlichen Verhaftungen schützt. Libyen hat sich auch dem individuellen Beschwerdeverfahren vor dem Menschenrechtsausschuss unterworfen. Das gibt den Schweizern theoretisch die Möglichkeit, an den Menschenrechtsausschuss zu gelangen.

Sie sagen theoretisch. Und praktisch?

Die Anwälte müssten mit den Festgehaltenen in Kontakt treten können. Ist das nicht möglich, können auch ihre nächsten Verwandten oder Ehefrauen eine Vollmacht erhalten. Damit könnten die Anwälte im Namen der Schweizer an den Menschenrechtsausschuss gelangen. Gleichzeitig müsste jemand bei den libyschen Behörden eine Beschwerde einreichen, denn die Verschleppung verstösst klar gegen die internationalen Verpflichtungen. Sollte Libyen auch in der Folge keinen Kontakt herstellen, würde das offiziell bedeuten, dass die Schweizer in Gefahr sind.

Das würde den Geiseln auch nicht helfen.

Die beiden Schweizer könnten unmittelbar beim Hochkommissariat für Menschenrechte eine Beschwerde deponieren lassen mit dem Antrag, sofort vorsorgliche Massnahmen zu ergreifen. So könnten die beiden festgehaltenen Schweizer zum ersten Mal überhaupt eine Reaktion einer internationalen Stelle erwirken, die den Libyern vorschreibt, dass sie für die Gesundheit und Sicherheit der Schweizer sorgen müssen.

Die Schweiz würde so Druck auf internationaler Ebene erzeugen. Würde das Gaddafi nicht noch stärker erzürnen?

Die Beschwerde würde die Libyer sicher nicht freuen. Aber sie wäre ein Zeichen für die Schweizer und ihre Angehörigen, dass sie den Libyern nicht völlig hilflos ausgeliefert sind. Verschärfungen auf der bilateralen Ebene zwischen der Schweiz und Libyen würde das Gaddafi-Regime bestimmt auch verärgern, ändern würde sich aber kaum etwas.

Ist eine baldige Lösung überhaupt noch möglich?

Eine schnelle Lösung halte ich für unrealistisch. Geduld ist gefragt.

Die bulgarischen Krankenschwestern sassen acht Jahre in libyscher Haft.

Ich hoffe nicht, dass es so lange geht.

Haben Sie einen Grund für diese Hoffnung?

Man muss sich bewusst sein: Der Gaddafi-Clan ist zutiefst verletzt in seiner Ehre. Das lässt sich nicht einfach wiedergutmachen. Die Schweiz muss verhindern, noch mehr Öl ins Feuer zu schütten. Die Polizeifotos von Hannibal Gaddafi etwa haben den schweizerischen Interessen geschadet, weil sie den Goodwill von Gaddafi, auf den wir angewiesen sind, sicher nicht erhöht haben.

Helen Keller ist Leiterin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich. Sie ist 1964 in Winterthur geboren und studierte in Zürich Recht. Nach diversen Auslandaufenthalten wurde Keller 2001 an die neugeschaffene juristische Fakultät in Luzern berufen. 2004 wechselte sie an die Universität Zürich. Seit Juli 2008 ist Keller Mitglied des Menschenrechtsausschusses der Uno. Sie ist Mutter von zwei Söhnen.

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