Affäre GaddafiBundesrat findet klare Worte zu Libyen
Erstmals deutliche Worte zu Libyen: Der Bundesrat macht der libyschen Seite Vorwürfe, die Zusammenarbeit systematisch zu verweigern. Die Geiseln würden völkerrechtswidrig festgehalten. Und für Merz hat Gaddafi sein Gesicht verloren.
Der Bundesrat lässt seine Zurückhaltung in der Libyen-Affäre fallen. Er hat erstmals öffentlich Kritik am nordafrikanischen Staat geäussert. Libyen weigere sich systematisch mit der Schweiz zusammenzuarbeiten, sagte Aussenministerin Micheline Calmy-Rey an einer Pressekonferenz in Bern. Der Bundesrat hatte am Mittwoch an einer Klausursitzung aussenpolitische Fragen und dabei auch die Libyen-Affäre beraten. Der Bundesrat habe eine Analyse der Situation vorgenommen und Massnahmen getroffen, sagte Calmy-Rey. Über das weitere Vorgehen könne sie jedoch nicht informieren. Die Strategie der Schweiz solle nicht in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Diese Zurückhaltung erscheint sinnvoll, soll doch Libyen nicht wissen, zu welchen Schritten die Schweiz bereit ist.
Die Schweiz ist ein Rechtsstaat
Der Bundesrat hat nach dem Ablauf der vertraglich festgelegten 60-Tage-Frist zu einer klaren Sprache gegenüber Libyen gefunden. Calmy-Rey und auch Bundespräsident Hans-Rudolf Merz betonten mehrmals, dass die Schweiz ein Rechtsstaat sei und mit entsprechenden Mitteln handeln müsse. Die Schweiz habe sich seit Beginn der Krise mit Libyen im Juli 2008 um eine Lösung bemüht, sagte Merz. In diesem Sinne sei auch der Vertrag zu sehen, den er mit Libyen am 20. August in Tripolis abgeschlossen habe. Er habe Libyen die Hand gereicht, sagte Merz. Aber das nordafrikanische Land habe seine Versprechen nicht eingehalten. Die Schweiz halte sich als Rechtsstaat an Abmachungen. Er erwarte von Libyen dasselbe. Damit erhebt Merz ebenfalls den Vorwurf an Gaddafi, seine Versprechen nicht einzuhalten.
Die Bundesräte fanden auch zu den beiden Schweizer Geiseln klare Worte. Libyen halte sie völkerrechtswidrig fest, sagte Calmy-Rey. Die Schweiz habe kein Lebenszeichen von den Geiseln. Der Besuch der Schweizer Delegation in Tripolis habe kein Resultat erbracht. Es gebe kein Anzeichen, dass Libyen die Beziehungen zur Schweiz normalisieren wolle. Das, obwohl die Schweiz von Beginn weg eine konstruktive Politik betrieben habe. Den Angehörigen der beiden seit über einem Jahr in Libyen festgehaltenen Schweizern versprach Calmy-Rey ihre Unterstützung.
Gaddafi habe sein Gesicht verloren
Merz beurteilt mit dem heutigen Wissen seine Reise Ende August nach Tripolis nicht anders, wie er auf eine entsprechende Frage sagte. «Ich würde alles nochmals gleich machen», sagte er. Die Schweiz müsse rechtsstaatlich handeln, weshalb er den Vertrag abgeschlossen habe. Dieser sei auch völkerrechtlich gültig, sagte er - vermutlich als Antwort auf Stimmen, die das Gegenteil behaupten. Und die Geiseln seien sehr wohl im Vertrag erwähnt, so Merz, in der Formulierung: «to settle all issues presently affecting their bilateral relationship» («[die Vertragsparteien] würden alle Probleme lösen, die derzeit ihre bilaterale Beziehungen betreffen»). Deshalb, so Merz in Anspielung auf seine bekannte Äusserung, habe nicht er sich blamiert: «Das Gesicht verliert der, der sich nicht an Abmachungen hält», sagte der Bundespräsident — und meint offensichtlich Gaddafi.
Strategie für Europapolitik und die internationalen Finanzmärkte
An der Klausursitzung berät der Bundesrat auch andere aussenpolitische Themen. Er hat das Vorgehen beraten, wie die Schweiz auf die Herausforderungen des internationalen Finanzmarktes reagieren kann. Insbesondere soll eine interdepartementale Arbeitsgruppe Varianten für ein Vorgehen gegenüber der G20-Gruppe ausarbeiten. Ebenfalls eine Strategie lässt der Bundesrat zur Europapolitik ausarbeiten. Es müssen Lösungen gefunden werden, die bilateralen Abkommen rasch anpassen zu können, sagt Aussenministerin Calmy-Rey. Eine offene Frage sei auch das weitere Vorgehen bei der automatischen Übernahme von EU-Recht.
Nicht verzichten will der Bundesrat vorerst auf die Beschaffung neuer Kampfjets. Dies hatte Verteidigungsminister Ueli Maurer vor einer Woche beantragt. Der sogenannte Tiger-Teilersatz will die Regierung nach Vorliegen des Sicherheitspolitischen Berichts nochmals beraten. Dieser verzögert sich jedoch. Der Bericht soll in drei neuen Bereichen ergänzt werden. Die Themen Auslandseinsätze, nationaler Sicherheitsverbund sowie das Armeekonzept finden Aufnahme. Neu wird der Sicherheitspolitische Bericht interdepartemental weiterbearbeitet. Bisher war das Verteidigungsministerium dafür alleine zuständig.
Der Vertrag mit Libyen
Bundespräsident Hans-Rudolf Merz hat am 20. August in Tripolis den Vertrag zwischen Libyen und der Schweiz unterzeichnet. Er soll die Krise zwischen den beiden Staaten beenden. Der Vertrag regelt hauptsächlich das Schiedsgericht, das die Verhaftung von Hannibal Gaddafi im Juli 2008 in Genf beurteilen soll. Innerhalb von 10 Tagen nach der Unterzeichnung bezeichnen beide Parteien ihren Vertreter des Schiedsgerichts. Diese wiederum bezeichnen ein drittes Mitglied, das das Gericht präsidiert. Können sich die beiden Parteienvertreter nicht bis 30 Tage nach Unterzeichnung einigen, wird der Präsident des Schiedsgerichts vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag ernannt.
Das Schiedsgericht mit Sitz in London muss bis 60 Tage nach Eröffnung des Verfahrens einen Entscheid fällen. Sieht das Schiedsgericht ein Vergehen der Genfer Polizei, sollen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Schweiz muss eine Kompensation bezahlen in der Höhe, die das Schiedsgericht festsetzt. Die Kosten für das Tribunal teilen sich die beiden Staaten.
Weiter schreibt der Vertrag vor, dass die Schweizer Regierung sich offiziell und öffentlich für die «ungerechtfertigte und unnötige» Verhaftung Hannibals entschuldigen muss. Das hat Bundespräsident Merz am 20. August in Tripolis getan. Gemäss des Vertrags stellen Libyen und die Schweiz innerhalb von 60 Tagen die normalen bilateralen Beziehungen wieder her, was nicht geschehen ist. Explizit gehört zur Normalisierung auch der konsularische Bereich mit Einreise- und Ausreisevisa. Die beiden seit Juli 2008 zurückgehaltenen Geiseln erwähnt der Vertrag nicht explizit. Ihnen wirft Libyen Verstösse gegen Visabestimmungen vor. (mdr)