Chaos bleibt ausDie japanische Ruhe im Sturm
Anderswo hätte eine solche Katastrophe zu Panik, Wut und Chaos geführt. Die Japaner hingegen bewahren Ruhe und damit auch die öffentliche Ordnung.
David Chiavacci, Professor für Japanologie an der Universität Zürich, erklärt, warum die Japaner in der Krise Ruhe bewahren. (Video: Keystone)
Seit drei Tagen scheint ihr Land um sie herum zusammen zu brechen: Eingestürzte Häuser, verwüstete Küstenregionen, strahlende Reaktoren, tausende Tote und Vermisste. Inmitten dieses unvorstellbaren Elends kommen einige sehr japanische Charaktereigenschaften zum Vorschein: Die Menschen verfluchen ihre Regierung nicht, sie fügen sich ihren Anweisungen und sparen Strom. Sie brechen nicht in Panik aus, sondern bewahren die ihnen typische, stoische Ruhe. Sie missbrauchen die Tragödie nicht für Plünderungen, sondern wollen unter allen Umständen Höflichkeit und Ordnung aufrecht erhalten. Wer in der Nähe der gefährdeten Atommeiler lebt, flieht nicht südwärts sondern bleibt.
Ausländer, die das verheerende Erdbeben mit- und überlebt haben, reiben sich die Augen. Wie zivilisiert sich die Japaner in dieser epischen Katastrophe verhalten, ist beeindruckend.
Problemloses Schlange Stehen
Die Kanadierin Youki Harada arbeitet seit vier Monaten in Tokio und war gerade im Büro im neunten Stock, als das Erdbeben begann. Gegenüber der kanadischen Tageszeitung «The Chronicle Herald» zeigte sie sich beeindruckt, wie sehr die Japaner die Erdbeben-Drills verinnerlicht haben. Während sie panikartig unter einen Tisch floh, bewahrten ihre japanischen Kollegen Ruhe: «Sie kennen die Fluchtwege, sie kennen die Sammelplätze, sie kennen die technischen Abläufe und jeder hilft jedem.»
Eine andere typische Szene spielte sich in der Stadt Koriyama, die etwa fünfzig Kilometer vom Atomkraftwerk Fukushima entfernt liegt und deren Trinkwasserversorgung zusammen gebrochen ist. Menschen standen vor dem Gymnasium Schlange für Trinkwasser, das von einem Lastwagen verteilt wurde. Dann teilte ein Beamter über Megaphon mit, dass der Tank bereits fast leer war und viele Familien ohne Wasser nach Hause gehen müssten. Keine Rufe, keine Proteste. Die Kolonne löste sich schnell und geräuschlos auf.
Während westliche Regierungen ihre Bürger aufforderten, die Region um Fukushima sofort zu verlassen, harren die Menschen hier aus und fügen sich den schwierigen Umständen. Auch entlang der Autobahn, die Tokio mit der verwüsteten Nordostküste verbindet, haben sich lange Schlangen vor den Tankstellen gebildet. Die Automobilisten warten geduldig ohne Rufen, Hupen und ohne sich vorzudrängeln.
Nationale Tragödie nicht spürbar
Ein Korrespondent der israelischen Tageszeitung «Haaretz» verglich die Situation mit seiner Heimat: «Für jemanden aus einem Land, wo zwei Tage Regen als Naturkatastrophe gelten, ist es unmöglich, diese Ruhe und Zurückhaltung zu verstehen», sagte Gideon Levy. Tokio sei eine Stadt ohne die im Westen üblichen traumatisierten und geschockten Opfer. Vielleicht gerieten die Menschen für einen kurzen Moment in Panik – ohne es zu zeigen – dann kehrten sie wieder in ihre Routine zurück. Mehrere Japaner entschuldigten sich bei ihm für etwelche Unannehmlichkeiten, die das Erdbeben verursacht hat. Von einer nationalen Tragödie konnte er nichts spüren.
In Sendai, der am stärksten getroffenen Stadt im Norden, wurden Häuser und Strassen zerstört, Autos durch die Kraft des Tsunamis auf Dächer geschleudert – doch in den vergangenen drei Tagen gab es nicht eine Meldung über Plünderungen. Anderswo berichten Menschen von Läden, deren Schaufenster durch das Erdbeben zerborsten und notdürftig durch Plastikfolien ersetzt wurden. Auch hier keine Plünderungen.
«Warum sollten wir uns Sorgen machen?»
Die sprichwörtlich stoische Ruhe der Japaner hat schon zahlreiche Anthropologen beschäftigt, die dann auf Samurai und Buschido (Verhaltenskodex des Samurai) hinweisen. Die Japaner selbst beurteilen die ihnen zugeschriebene Charakterstärke – man kann es sich denken – eher unaufgeregt.
«Ich bin nicht verpflichtet, mir Sorgen zu machen, das ist die Aufgabe der Regierung. Also machen wir uns keine Sorgen», sagte der 46-jährige Hiroaki Kano der kanadischen Tageszeitung «The Globe and Mail», während er sich in Koriyama für Trinkwasser anstellte. In derselben Schlange stand auch der 32-jährige Naoki Ishkawa. «Ist es wirklich so verwunderlich, dass wir nicht in Panik ausbrachen und keine Krisenstimmung spüren?», fragte er und seine Frau antwortete: «Wir hatten keine Warnung, keinen Alarm und keine Anweisungen von der Regierung. Also machten wir uns keine Sorgen.»