«Es könnte plötzlich sehr schnell gehen»

Aktualisiert

Krieg in Libyen«Es könnte plötzlich sehr schnell gehen»

Der militärische Einsatz der Alliierten gegen Gaddafi wird ausgedehnt. England, Frankreich und Italien schicken Militärberater. Bodentruppen könnten laut Experten folgen.

von
Senta Keller

Den Entscheid des UNO-Sicherheitsrats, eine Flugverbotszone über Libyen einzurichten, begrüssten die Aufständischen in Bengasi Mitte März mit Jubelschreien. Als Kampfjets wenige Stunden später bereits Angriffe auf Gaddafis Flugzeuge, Militäreinrichtungen und Panzer flogen, herrschte fast schon Euphorie. Alliierte und Aufständische wähnten sich vor einem raschen Sieg. Inzwischen herrscht Ernüchterung. Über 10 000 Menschen sind laut den Aufständischen im Libyen-Krieg bereits gestorben, 55 000 sind verletzt.

Während die Rebellen grosse Schwierigkeiten haben, die Städte im Westen des Landes einzunehmen, konnte sich Gaddafi mit grausamer List an die Luftangriffe der NATO anpassen. Er benutzt Frauen und Kinder als menschliche Schutzschilder und lässt Soldaten in Zivilkleidung angreifen. Die Situation in Libyen sei festgefahren, sagt Nahost-Experte Roland Popp, vom Center for Security Studies der ETH Zürich gegenüber 20 Minuten Online.

Vor allem in der westlichen Stadt Misrata spitzt sich die Lage dramatisch zu. Seit Wochen belagern Gaddafis Truppen die libysche Küstenstadt. Zehntausende schwarzafrikanische Gastarbeiter sind in der Sahara auf der Flucht, die Bewohner der Stadt müssen neben den Kampfhandlungen mit Nahrungsmittelengpässen und Stromausfällen klar kommen.

Am Dienstag haben sich die Rebellen mit einem Hilferuf an den Westen gewandt und erstmals offiziell um Bodentruppen gebeten. «Wenn sie nicht kommen, werden wir sterben», sagte Rebellensprecher Nuri Abdullah Abdullati.

«Misrata will man nicht fallen lassen»

Der französische Aussenminister Alain Juppé hat zwar bereits verlauten lassen, er sei gegenüber einer Entsendung von Bodentruppen «absolut ablehnend» eingestellt. Roland Popp hält es aber durchaus für möglich, dass schon bald Bodentruppen eingesetzt werden könnten: «Wenn Misrata fallen würde, wäre die Signalwirkung sehr gross. Dann wäre die letzte Stadt im Westen des Landes in Gaddafis Hand und das Land wäre geteilt. Die NATO hätte ein Glaubwürdigkeitsproblem.» Der Eindruck des Scheiterns der Mission entstünde, was die Verbündeten natürlich verhindern wollen, so Popp. «Misrata will man nicht fallen lassen, auch weil die Hafenstadt der ideale Ort für eine Landung von Bodentruppen wäre. Man wäre sehr nahe an Gaddafis Machtzentrum und hätte über den Hafen gute Zugangsmöglichkeiten. Die Uhr tickt. Deshalb könnte es auch plötzlich sehr schnell gehen.»

Nicht umsonst sei Misrata wieder stärker in den Medien, meint Popp. Zurzeit erfahre man von Streubomben, die Gaddafi in Misrata eingesetzt habe und von einer sich humanitär zuspitzenden Lage. «Die EU bereitet ein bis zu 1000 Mann starkes Truppenkontingent vor, das einen humanitären Einsatz mit Hilfslieferungen unterstützen könnte. Da diese Einsatztruppe aber bewaffnet ist, würde es sich de facto bereits um eine Bodentruppe handeln. Würde Gaddafi auf die Einsatzkräfte schiessen lassen, führte dies unweigerlich zu einer Eskalation.»

Schleichende Ausweitung der Kampfhandlungen

Noch vor wenigen Tagen hatte der NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verneint, dass man mit den Rebellen militärisch zusammenarbeite. Man habe zwar Kontakt zur Opposition, aber die «militärische Taktik ist eine Aufgabe der libyschen oppositionellen Gruppen», schreibt Spiegel Online. Dass es sich zurzeit um eine klassische «Mission Creep» - also eine schleichende Ausweitung der Kampfhandlungen – handle, zeigt sich für Popp daher auch in der Entsendung britischer, französischer und italienischer Militärexperten, welche in Bengasi die Aufständischen beraten sollen.

Mindestens zwanzig britische Offiziere sollen aus den Rebellen eine glaubwürdige Kampfkraft machen. Auch Frankreich hat inzwischen Verbindungsoffiziere zu den Aufständischen entsandt, Rom kündigte ebenfalls an, Militärexperten zu den Rebellen zu schicken. Ziel sei die technische und organisatorische Beratung des oppositionellen Übergangsrats in Bengasi beim Schutz der Zivilbevölkerung. Auch der britische Aussenminister William Hague betonte sogleich, dass die Entsendung britischer Offiziere nur eine Ausweitung der diplomatischen Präsenz in Bengasi bedeute. «Es geht nicht darum, Kampfkräfte zu trainieren oder sie zu bewaffnen, sondern ihnen zu helfen, sich zu organisieren, um die Zivilbevölkerung zu schützen.», zitiert ihn die Zeitung «Guardian».

Warnungen vor zweitem Vietnam oder Afghanistan

Dass aber nicht irgendwelche Offiziere nach Bengasi geschickt werden, weiss «The Independent». Nach Bengasi reise nämlich ein kampferprobter Kommandant, der jahrelang in Afghanistan gedient habe. Mehrere Vertreter britischer Parteien seien überzeugt, dass sie immer tiefer in den libyschen Bürgerkrieg gezerrt würden, schreibt die britische Zeitung «The Daily Telegraph» . Walter Menzies Campbell, der frühere Vorsitzende der britischen Liberaldemokraten, zieht bereits Vergleiche mit Vietnam und erinnert daran, dass das Engagement der USA auch mit Militärberatern begonnen habe.

Spiegel Online warnt derweil mit der «Angst vor einem zweiten Afghanistan». Diese Sorgen sind laut Roland Popp vom CSS weitgehend unbegründet: «Nordafrika ist nicht Vietnam und auch nicht Afghanistan. Ein langer Guerilla-Krieg ist schon aufgrund des Territoriums in Libyen unwahrscheinlich. Ich gehe davon aus, dass die westliche Staaten aus dem Irakdesaster gelernt haben und schnell wieder abziehen würden – wenn es denn zum Einsatz von Bodentruppen käme. Wenn Gaddafi erst einmal beseitigt wäre, könnte man wohl relativ schnell eine anerkannte legitime Regierung bilden.»

Ausbildung soll Einmarsch verhindern

Grundsätzlich erlaube die UNO-Resolution zwar keine Bodentruppen – explizit sei aber nur eine Besatzung Libyens ausgeschlossen, verlangt sei hingegen der Schutz von Zivilisten. Dennoch ist der Nahost-Experte überzeugt, dass mit der Ausbildung der Rebellen ein Eingreifen von Bodentruppen verhindert werden solle. «Wenn die Rebellen soweit gebracht werden könnten, dass sie selber fähig sind, Gaddafi zu bezwingen, wäre dies der Königsweg. Vage Hoffnung besteht noch immer, aber das kann Monate und Jahre dauern.»

Der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle rechnet derweil schon jetzt mit einem längeren Einsatz in Libyen. Er verlangt eine politische Lösung. Eine solche schlug inzwischen Libyens Aussenminister Abdul Ati al-Obeidi vor. Einem Bericht des Senders BBC zufolge stellt er Wahlen in Aussicht, falls die NATO ihre Angriffe in dem Land einstellt. Wenn die Bombardierung aufhöre, könne es sechs Monate später eine von den Vereinten Nationen überwachte Wahl geben.

(Kämpfe in Misrata vom 19. April 2011)

Kriegsverbrechen in Misrata

In Genf teilte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, am Mittwoch mit, dass die libyschen Regierungstruppen mit dem Einsatz schwerer Waffen gegen die Zivilbevölkerung in Misrata möglicherweise Kriegsverbrechen begehen. Die Truppen Gaddafis sollten sich bewusst sein, dass ihre Handlungen in Misrata vom Internationalen Strafgerichtshof untersucht würden, sagte Pillay. So stelle der absichtliche Beschuss von medizinischen Einrichtungen ein Kriegsverbrechen dar, erklärte die UN-Hochkommissarin.

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