SchlüsselstadtDas Schicksal Libyens wird in Sirte entschieden
Schon zweimal endete der Vorstoss der libyschen Rebellen vor Sirte. Aus strategischen wie symbolischen Gründen will Gaddafi seine Heimatstadt unbedingt halten.

Das Konferenzzentrum in Sirte, gut erkennbar an seiner zeltähnlichen Form, steht seit seiner Errichtung Ende der 80er Jahre wie viele andere Gebäude in der Stadt leer. (Bild: Aga Khan Award for Architecture)
Anfang März standen die libyschen Rebellen schon einmal vor Sirte. Aus ihrer Hochburg Bengasi vorrückend hatten sie Adschdabija sowie die beiden wichtigen Ölstädte Ras Lanuf und Brega eingenommen. Dann begann die Truppen Gaddafis ihre Gegenoffensive, eroberten alle zuvor verlorenen Städte zurück und stiessen ihrerseits bis Bengasi vor. Mitte März begannen die Alliierten ihre Luftschläge gegen Gaddafis Truppen, und die Rebellen brachen abermals Richtung Westen auf. Adschdabija, Ras Lanuf und Brega eroberten sie in Windeseile zurück. Und wieder endete ihre Vorstoss vor Sirte. Eine Stadt, von der vor dem Ausbruch des libyschen Bürgerkriegs nur wenige jemals gehört hatten. Die Heimatstadt Gaddafis und möglicherweise die Schicksalsstadt dieses Konflikts, schreibt die «Huffingtonpost».
Wie jedes libysche Kind in der Schule lernt, wurde 1942 in einem Zelt ausserhalb Sirte der spätere Revolutionsführer Muammar Gaddafi geboren. In den späten 1980er-Jahren beschloss Gaddafi, das verschlafene Wüstennest zur Hauptstadt Libyens zu machen. Er befahl, Ämter und Regierungsstellen aus Tripolis nach Sirte umzusiedeln. Zudem liess er repräsentative Verwaltungsgebäude nach sowjetischem Vorbild sowie ein Konferenzzentrum errichten - als Hommage an seine einfache Herkunft in der Form eines Zelts. Sirte sollte seine Version der brasilianischen Hauptstadt Brasilia werden, entworfen auf dem Reissbrett und errichtet in der Wildnis.
Symbol der Macht und des Scheiterns
Gaddafis ambitionierter Plan ging nie richtig auf. Trotz der neuen Infrastruktur wollte niemand ins provinzielle Sirte ziehen - nicht einmal seine Regierungsbeamten. In einer seltenen Auflehnung gegen den Revolutionsführer beschlossen sie, in Tripolis zu bleiben. Das Konferenzzentrum, die Hotels und die breiten Strassen wurden zwar instandgehalten, aber nur selten genutzt. Laut Charles O. Cecil, einem inzwischen pensionierten US-Diplomaten, der 2006 in Libyen stationiert war, stehen die meisten dieser Gebäude leer.
So wurde Sirte zwar nie zur pulsierenden Metropole, die Gaddafi sich gewünscht hatte, doch ganz aufgeben wollte er sein Projekt nicht. In den vergangenen 20 Jahren hat er hier zahlreiche ausländische Staatsmänner empfangen und 1999 die Afrikanische Union gegründet. Als er vor zehn Jahren die Idee lancierte, die Vereinigten Staaten von Afrika auszurufen, sah er Sirte als Hauptstadt vor. Vielleicht nicht für die Libyer, aber für Gaddafi selbst blieb seine Heimatstadt ein Symbol seiner Macht.
Revolution oder Stammeskrieg
Neben dieser Symbolik besitzt die Stadt auch hohe strategische Bedeutung. Setzen sich die Rebellen hier durch, ist der Weg zur Rebellenhochburg Misrata frei. Von hier aus könnten sie den entscheidenden Vorstoss nach Tripolis starten. Ebenso bedeutsam ist der Umstand, dass die Gegend um Sirte vom Stamm der Gaddafa kontrolliert wird, dem Gaddafi entstammt. Dieser hat von den riesigen Investitionen in Sirte profitiert. Die Rebellen müssen damit rechnen, dass sie in Sirte neben Soldaten auch auf feindlich gesinnte Zivilisten treffen.
Benjamin Barber, Politologe am US-Think-Tank Demos und ehemaliger Berater von Gaddafis Sohn Saif, ist überzeugt, dass Sirte die Schlüsselstadt im libyschen Bürgerkrieg ist: «Wenn es Gaddafi nicht gelingt, Sirte als loyalen Clan zu halten, ist sein Schicksal besiegelt.» Er geht allerdings davon aus, dass sich der Revolutionsführer nach wie vor auf seinen Stamm verlassen kann. Was nicht bedeutet, dass Sirte uneinnehmbar ist.
Doch der Preis könnte für die Rebellen ein hoher sein. Barber vermutet, dass sie dort auch Zivilisten töten müssten, die zu Gaddafi halten. Dies würde den Konflikt radikal verändern: Laut UNO-Resolution 1973 müssten dann die Alliierten einschreiten und Luftangriffe gegen die Rebellen fliegen.