«Ein Land hat gesagt: ‹Wir wollen euch nicht.›»

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Ausländische Medien«Ein Land hat gesagt: ‹Wir wollen euch nicht.›»

Mit teils heftiger Kritik reagieren ausländische Medien auf den Minarett-Entscheid. Von einem «krachenden Tritt gegen Vernunft und Wissen» ist die Rede und von einem «destruktiven und schädlichen Ergebnis». Kritisiert werden auch die Plakate «in den Nazi-Farben rot, schwarz und weiss».

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Von einem «schockierend deutlichen Erfolg» spricht der Kommentator von «Spiegel Online». Es sei eine «virtuelle Debatte» gewesen, die von der Realität der Schweiz weitgehend losgelöst war. Es gehe um eine tiefsitzende Furcht vor dem Islam - «eine Angst davor, dass die Werte der Gesellschaft in Gefahr sein könnten». Das Ergebnis zeige aber auch das Versagen der politischen Eliten. Sie seien unfähig, sich dieser Furcht anzunehmen und Lösungen für «die realen und die wahrgenommenen Probleme im Umgang mit muslimischen Einwanderern zu finden».

«Ein Rückfall hinter die Errungenschaft der Aufklärung, ein Rückschritt in eine Zeit der Ideologien, Glaubensdogmen und Vorurteile, ein krachender Tritt gegen Vernunft und Wissen.»: Der Berliner «Tagesspiegel» wählt drastische Worte. Denn das Abstimmungsergebnis richte sich nur vordergründig gegen Minarette, «tatsächlich nicht einmal nur gegen den Islam, sondern im Kern gegen alles Fremde». Die Schweiz sei jahrzehntelang mit ausländischen Arbeitskräften wie mit anderen Produktionsmitteln umgegangen – genutzt, wenn man sie brauchte, gemieden, wenn sie überflüssig waren –, die Schweiz wolle nicht zur EU gehören, doch von ihr profitieren, die Schweiz wolle mit der arabischen Welt Milliardengeschäfte machen, aber den Islam aus dem Land halten – das werde nicht funktionieren: «Die Schweiz ist keine Insel. Der Versuch, das Land dazu zu machen, wird fatale Folgen haben.»

«Volksentscheide bergen offensichtlich Risiken»

Ein Hohelied auf die mittelbare Demokratie, wie sie in Deutschland «nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich entwickelt wurde», singt der Kommentator der «Stuttgarter Zeitung». Das Ergebnis der Abstimmung sei eine Katastrophe für alle Verfechter der direkten Demokratie: «Denn Volksentscheide bergen offensichtlich Risiken, die der einzelne Abstimmende nicht einschätzen kann.» Er bezeichnet den Volksentscheid denn auch als «Skandal»: «Denn hier hat ein Land mitten in Europa zu den Muslimen gesagt: ‹Wir wollen euch hier nicht.› Dabei hat man sie selbst geholt - in den kurzen Jahren, in denen Arbeitskräfte knapp waren.»

In dieselbe Kerbe schlägt auch die «Süddeutsche Zeitung»: Das Ergebnis sei eine Art Kollateralschaden der direkten Demokratie. So könne es kommen, wenn das Volk nicht nur über Turnhallen oder Transrapidbahnen abstimme, sondern über alles. Die «Süddeutsche» legt Herr und Frau Schweizer dann noch auf die Couch: Das Abstimmungsresultat habe auch mit dem annus horribilis zu tun, das die Schweiz hinter sich habe. Es sei ein «Wut-und-Frust-Votum». Das Ende des Bankgeheimnisses empfanden viele Eidgenossen als demütigend. Und noch immer werde ihr Land in der Geiselaffäre von Gaddafi an der Nase herumgeführt. «Das Ausland» stehe nicht hoch im Kurs in der Schweiz. Und weil die Berner Regierung in den genannten Fällen keine gute Figur mache, könnte das Votum auch ein Denkzettel für sie sein.

«Falsche Antwort auf eine richtige Frage»

«Welt Online» meint, das Abstimmungsergebnis gebe eine falsche Antwort auf eine richtige Frage. Die Frage, die inzwischen alle europäischen Gesellschaften umtreibe, sei die nach dem richtigen Umgang mit einer wachsenden muslimischen Minderheit, nach den Grenzen der Toleranz gegenüber zuweilen rückschrittlicher Sitten. Die Volksabstimmung zeige, wie tief die Ängste vor dem Islam in Europa gehen, «Ängste, die man sicher auch in der Politik ernster nehmen sollte». Einen Weg zur Lösung der drängenden Integrationsprobleme in Europa zeige dieses Resultat aber gerade nicht auf.

Einen Altbekannten als Wahlsieger ausgemacht hat die «Zeit»: Osama bin Laden. Dieser arbeite auf eine Wahrnehmung der Auseinandersetzung hin, die sich in den Schlagworten «wir gegen sie, der Kampf der Kulturen, der Krieg der Religionen» fassen lasse. Mit dem Schweizer Votum sei er diesem Ziel einen weiter Schritt näher gekommen. Die Schweiz habe am Wochenende offenbar mehrheitlich die Idee der Freiheit und das Prinzip der Menschenrechte mit Füssen getreten. Sie habe die Weltsicht Osama bin Ladens übernommen. «Es ist ein schwarzer Tag für Europa, für den Westen und die Freiheit.»

Für das schwedische «Svenska Dagbladet» können Menschenrechte gar «nicht Gegenstand von Mehrheitsbeschlüssen» sein. «Das Recht, seine Religion auszuüben kann man nicht wegstimmen. Die Abstimmung verstösst gegen die Prinzipien der Demokratie.»

«Es ist Rufmord»

Schweres Geschütz fährt die konservative Londoner «Times» auf: «Die weltoffene und kultivierte Schweizer Wählerschaft hat gestern dafür gestimmt, die Spannungen anzuheizen und die religiöse Freiheit zu verletzen.» Der Kommentar spricht von einem «destruktiven und schädlichen Ergebnis». In der Absicht, die Prinzipien der konstitutionellen Gesellschaft gegen die religiöse Intoleranz zu verteidigen, hätten sich die Schweizer Wähler für die Intoleranz entschieden. «Das ist mehr als ein Paradox: Es ist Rufmord.»

Ebenso deutlich äussert sich der liberale «Guardian»: Das Resultat sollte «die Schweiz beschämen und Europa ängstigen». Kritisiert werden nicht zuletzt die Plakate der Minarettgegner: Niemand sollte im Kontext der äussersten Rechten die Natur einer Kampagne missverstehen, «die in den Nazi-Farben rot, schwarz und weiss ausgefochten wird». Es sei aber zu einfach, die Schweiz allein zu kritisieren, meint der «Guardian» und verweist auf ähnliche Entwicklungen in anderen europäischen Ländern. «Der Hass liegt direkt unter der Harmonie. Politiker, die ihn hervorrufen, könnten schrecklichen Schaden anrichten.»

In den US-Medien wird der Volksentscheid kaum kommentiert: Der Entscheid «verdeutliche eine weit verbreitete Angst vor dem Islam und untergrabe den religiös toleranten Ruf des Landes», schreibt die «New York Times» in ihrem Bericht zur Abstimmung. Die «Washington Post» konstatiert ein «unerwartetes Ausmass von Feindseligkeit gegenüber muslimischen Einwanderern in einem Land, das lange bekannt war für Diskretion und Toleranz». Und für die «Los Angeles Times» ist das Resultat ein «Indiz für latente Ängste vor islamischem Einfluss in der Schweiz».

«Kopf-in-den-Sand-Haltung»

Einen Kontrapunkt setzt das konservative «Wall Street Journal», das als einzige grosse US-Zeitung die Abstimmung ausführlich kommentiert. Es handle sich bei aller Aufregung um einen «relativ milden Protest». Ein Minarett-Verbot trage allerdings nichts dazu bei, die Ängste vor dem Islam anzugehen. Es handle sich vielmehr um eine «Kopf-in-den-Sand-Haltung» gegenüber den 5 Prozent muslimischen Schweizern. Das Verbot trage nicht zur Assimilierung der Muslime in der Schweiz oder in Europa bei, ebenso wenig zur wirtschaftlichen Chancengleichheit oder zum demographischen Problem in Westeuropa.

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